Esso-Häuser an der Reeperbahn in Hamburg: Die Brache auf dem Kiez

Nach dem Abriss der Esso-Häuser an der Reeperbahn rangen An­woh­ne­r:in­nen dem Investor Zugeständnisse ab. Nun steht alles auf der Kippe.

Das Palomaviertel an der Hamburger Reeperbahn. Im Hintergrund die Tanzenden Türme.

Wo einst die Esso-Häuser standen, wächst heute Unkraut Foto: Jonas Walzberg

HAMBURG taz | Das Gestrüpp auf der Brachfläche ragt mittlerweile schon über den zweieinhalb Meter hohen Bretterzaun. Der verhindert neugierige Blicke auf das rund 6.100 Quadratmeter große Grundstück mitten in Hamburg-St. Pauli. Lisa Zander schließt die kleine weiße Holzhütte auf, die nebenan am Spielbudenplatz auf dem Gehweg steht. Ein paar Stühle stehen drin und Pappkisten – und an der hinteren Wand der Hütte finden sich auf zwei Metern Dutzende von Aktenordnern in einer Hängeregistratur. „Das ist das gesamte Archiv der Planbude“, sagt Zander, die zum festen Team dieser Stadtteilinitiative gehört. Tausende ausgefüllte Fragebögen von An­woh­ne­r:in­nen sind da drin, Architekturzeichnungen, Konzepte für die Raumaufteilung des Gebäudekomplexes, das schon längst nebenan auf der Brachfläche gebaut sein sollte.

Seit Jahren warten Zander und die anderen Mitglieder der Planbude vergebens darauf, dass die Eigentümerin, die Bayerische Hausbau, endlich damit beginnt, das Grundstück, auf dem bis vor knapp zehn Jahren die legendären Esso-Häuser standen, wie besprochen zu bebauen. Anfang August wurde dann bekannt, dass die Bayerische Hausbau Gespräche über einen Verkauf des Grundstücks führt. Damit droht ein international beachtetes Projekt vorbildlicher Stadtentwicklung, das eine intensive Beteiligung der An­woh­ne­r:in­nen an einem privaten Bauprojekt durchsetzte, zu zerplatzen.

Dass für den Nachfolgebau der Esso-Häuser ein Kompromiss gefunden wurde, der für den immer noch armen Stadtteil und seine vielfältige Alternativkultur annehmbar war, lag an der Arbeit der Planbude. „Die Planbude ist in erster Linie als Prozess zu verstehen, um frühzeitig das Alltagswissen von An­woh­ne­r:in­nen und Be­su­che­r:in­nen auf St. Pauli in die Gestaltung der neuen Bebauung einfließen lassen zu können“, sagt Zander.

Die Eigentümerin sollte nicht einfach ihren Plan eines renditeträchtigen Neubaus mit vielen hochpreisigen Eigentumswohnungen und gehobenen Gewerbeflächen samt schickem Hotel verwirklichen. „In der Planbude sind Stadt­pla­ne­r:in­nen, Architekt:innen, So­zial­ar­bei­te­r:innen, Künst­le­r:in­nen und Kul­tur­wis­sen­schaft­le­r:in­nen zusammengekommen“, sagt die Architektin Zander. Sie übersetzten die Wünsche und Forderungen der St. Pau­lia­ne­r:in­nen in ein Baukonzept, auf das die Eigen­tümerin Rücksicht nehmen musste.

Dass ein privates Immobilienunternehmen nicht umhinkam, diese Belange zu berücksichtigen, schien die Bayerische Hausbau selbst lange Zeit nicht glauben zu können. Und sie hätte wohl auch keine Rücksicht bei einem Neubau nehmen müssen, wäre es 2013 nicht zu einem Vorfall mit weitreichenden Folgen gekommen: Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten, als einige Mie­te­r:in­nen in den Wohnungen der Esso-Häuser Erschütterungen wahrnahmen. Im Keller, im Musikclub Molotow, hatte gerade noch die Band Madsen ein Konzert gespielt, ehe der gesamte Gebäudekomplex von der Polizei wegen akuter Einsturzgefahr geräumt wurde. Ein Großteil der 91 gemeldeten Bewohner verbrachte die Feiertage im Hotel, das Molotow, die namensgebende und bundesweit bekannte Esso-Tankstelle und weitere Kleingeschäfte mussten schließen.

Abriss war angekündigt

Die Empörung bei den Betroffenen wie bei Gen­tri­fi­zie­rungs­geg­ne­r:in­nen war groß, zumal diese auf die Bayerische Hausbau sowieso schlecht zu sprechen waren. Als die Hausbau vier Jahre zuvor die Immobilie für geschätzte 19 Millionen Euro kaufte, hatte sie unmissverständlich klargemacht, sich zügig an den Abriss der Gebäude machen zu wollen. Reparaturen oder gar Sanierungen wurden nicht mehr vorgenommen, zwischenzeitlich waren bereits einige Balkone wegen Einsturzgefahr abgesperrt und weithin sichtbar mit Stützbalken notdürftig gesichert worden. Die Wohnungen des anspruchslosen 60er-Jahre-Baus waren zwar in keinem guten Zustand, aber immerhin noch günstig.

Die Esso-Häuser wurden zum Symbol des Ausverkaufs der Stadt an Immobilieninvestoren. Weil zur selben Zeit die Räumung des besetzten Kulturzentrums Rote Flora befürchtet wurde und die Lampedusa-Gruppe – Geflüchtete, die nach dem Libyen-Krieg über Italien nach Hamburg kamen – um ein Bleiberecht kämpfte, kam es sechs Tage nach der Räumung der Esso-Häuser zu einer Großdemonstration: Rote Flora, Geflüchtete, Esso-Häuser – alle sollten bleiben, meinten die rund 7.500 Demonstrant:innen.

Kaum war die Demonstration gestartet, knallte es zwischen Autonomen und der Polizei. Auch in den darauffolgenden Tagen kam es immer wieder zu einzelnen Ausschreitungen und Demonstrationen vor den Esso-Häuser-Ruinen. Politik und Polizei reagierten harsch und erklärten mehrere Stadtteile zu sogenannten Gefahrengebieten, in denen Bürgerrechte ausgesetzt wurden.

Nach der Räumung waren die Esso-Häuser jedoch wegen der festgestellten Einsturzgefahr nicht mehr zu retten, im Frühjahr 2014 rückten die Abrissbagger an. „In diesem Frühjahr gab es eine Stadtteilversammlung, die zu dem Schluss kam: Es reicht, wir müssen etwas gegen dies Gentrifizierung unternehmen“, sagt Zander, und blickt von den Holzbrettern, die die Brachfläche umgeben, rüber zu den Tanzenden Türmen, zwei gläserne Büro- und Hotelhochhäuser, die am östlichen Eingang zur Reeperbahn nur einige Schritte entfernt stehen. „Die waren damals ja gerade erst gegen den Willen vieler An­woh­ne­r:in­nen fertiggestellt worden“, sagt Zander. Wenn neugebaut werden müsse, dann wollte das Viertel eben auch mitplanen.

Eine Initiative von Be­woh­ne­r:in­nen und Nach­ba­r:in­nen hatte sich schon gegründet, um einen festen Kern von acht Leuten bildete sich daraufhin die Planbude. „Wir bekamen vom Bezirksamt dann den Auftrag, das sogenannte vorgezogene Beteiligungsverfahren durchzuführen“, sagt Zander. Die Planbude nahm den Auftrag umfassend an, verteilte Fragebögen in mehreren Sprachen, diskutierte mit Klassen der umliegenden Schulen, führte Haustürgespräche in der Nachbarschaft. Der Container am Spielbudenplatz hatte fünf Tage die Woche geöffnet, sodass auch Pas­san­t:in­nen Ideen und Wünsche einbringen konnten.

Mit den Ergebnissen aus dieser von der Planbude betitelten „Wunschproduktion“ ging es anschließend in die Verhandlungen mit dem Bezirksamt und dem Eigentümer, der weitreichende Zugeständnisse machen musste. 60 Prozent der insgesamt 200 Neubauwohnungen sollten öffentlich gefördert werden, Eigentumswohnungen tabu sein.

Hinzu kamen den Plänen nach ein öffentlicher Platz auf dem Dach und eine Stadtteilkantine. Auch der Musikclub Molotow sowie stadtteiltypisches Kleingewerbe sollten wieder Räume bekommen. Mitte 2018, das Projekt trug inzwischen den Namen „Palomaviertel“, schienen die meisten der noch offenen Fragen geklärt zu sein. Selbst die Bayerische Hausbau erkannte, dass sie mit diesem Beteiligungsverfahren für sich werben kann. „Wir haben uns schon gefragt, wo wohl als Erstes ein Kran stehen wird“, sagt Zander.

Bezirksamt wundert sich

Doch dann passierte lange Zeit: nichts. Zwischendurch gab es in den vergangenen Jahren zwar Hinweise der Bayerischen Hausbau, dass vor Baubeginn noch einzelne Sachfragen, etwa hinsichtlich des Lärmschutzes zu klären sein. Doch seit rund zwei Jahren wundert sich auch schon das zuständige Bezirksamt, warum das Unternehmen immer noch keinen Bauantrag eingereicht hat.

Anfang August dann gab überraschend das städtische Wohnungsunternehmen Saga bekannt, dass ihm das Grundstück zum Kauf angeboten worden sei und es nun „ein mögliches Engagement unter der Maßgabe der Realisierung öffentlich geförderten Wohnungsbaus“ prüfe. Die Bayerische Hausbau bestätigt indirekt, dass es den Bau nicht mehr umsetzen will. „Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen in der Immobilienwirtschaft, die sich weiter zugespitzt haben, suchen wir nach einer Lösung für die Zukunft des Paloma-Viertels“, sagt eine Sprecherin.

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Der ausgehandelte Kompromiss steht damit auf der Kippe, selbst wenn das Grundstück in die städtischen Hände der Saga fällt. Als städtisches Wohnungsunternehmen würde es schließlich kaum zur Gegenfinanzierung der sozialorientierten Baubereiche ein renditeträchtiges Hotel erbauen, wie es die Bayerische Hausbau vorhatte. Und die Saga selbst spricht in ihrem Statement explizit nur davon, einen Kauf hinsichtlich des Wohnungsbaus zu prüfen.

„Die Bayerische Hausbau sollte zu ihren Zusagen stehen“, fordert deshalb Zander. Und die Politik müsse das Unternehmen dazu drängen, hier entweder zügig zu bauen oder das Grundstück an die Stadt abzugeben, fordert auch die Anwohner:innen-Initiative. Ein Verkauf könnte allerdings einen faden Beigeschmack bekommen: Der Wert des Grundstücks dürfte im Laufe der vielen Jahre massiv gestiegen sein, das Unternehmen also dann auch noch fürs Nichtstun belohnt werden.

Die weiße Holzhütte ist nach den Jahren des Stillstands schon jetzt von außen verwittert. Auch Zander glaubt, dass sie wohl noch länger als erwartet dort stehen bleiben muss, ehe die darin archivierten Ideen mit dem Baubeginn endlich umgesetzt werden – falls die Planbuden-Gruppe sie bei einer kompletten Neuplanung nicht ohnehin ­erneut herauskramen muss. Bis es so weit ist, werden die Sträucher hinter den Holzplatten ungestört weiter wachsen.

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