Essen in Katalonien: Heilsame Schäume
Katalonien ist für seine Spitzenküche berühmt, doch die Menschen vor Ort ernähren sich häufig nicht gut. Die Fundació Alícia will das ändern.

taz | Eine tausendjährige Benediktinerabtei mit mächtigem Glockenturm und Klostergarten, drumherum sanft gewellte Weinberge. Kurz scheint es, als sei im Món Sant Benet die Zeit stehengeblieben, doch das gläserne Nebengebäude deutet auf mehr hin. Hier, im Hinterland von Barcelona, befindet sich ein innovatives Forschungszentrum für Ernährung: die Fundació Alícia.
In einer der großen Laborküchen im Inneren formen an diesem Morgen Jugendliche einer Schulklasse Burgerpatties aus Kichererbsenmehl. Ein lautstarkes Unterfangen. „Wir veranstalten hier viele Workshops, auch für Profis“, sagt Adriana Gálvez, die durch das Gebäude führt. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, den Menschen in der Region eine gute und nachhaltige Ernährung näherzubringen. Denn die ist für viele hier keine Selbstverständlichkeit mehr.
Das mag man kaum glauben, wurde Katalonien doch gerade zur „Weltregion der Gastronomie“ ernannt – ein Titel, mit dem Arantxa Calvera, die Direktorin der katalanischen Tourismusagentur, stolz auf Messen und Tourismusevents wirbt. Keine andere Region der Welt hat solch eine hohe Dichte an Feinschmeckeradressen mit zwei oder drei Michelin-Sternen vorzuweisen. Geprägt und gepusht wurde das Image ab den 1990er-Jahren durch Ferran Adrià und seine innovative Molekularküche, in der Lebensmittel wie Austern, Gemüse und Pilze durch chemische und physikalische Prozesse bis zur Unkenntlichkeit zu Schäumen, Emulsionen oder Gelatinen verarbeitet werden.
Der kulinarische Alltag vieler in der Region sähe jedoch ganz anders aus, berichtet Adriana Gálvez von der Fundació Alícia: „Zu Hause greifen die Menschen immer mehr zu Fertigprodukten mit fragwürdigen Zusatzstoffen.“ Dies war einer der Gründe, warum das Team der Fundació schon bald nach ihrer Gründung seinen Fokus verschob. Ursprünglich war es 2003 angetreten, um mit Unterstützung von Ferran Adrià Küchentraditionen, -innovationen und -techniken zu erforschen. Inzwischen widmen sich die etwa zwanzig Ernährungswissenschaftler, Biologen, Köche und Mediziner der sozialen Seite von Ernährung. „Wir wollten auf die Gesellschaft Einfluss nehmen“, erinnert sich Gálvez, die einen Master im Bereich Gesundheit und Stoffwechsel hat. Denn die Katalanen ernährten sich schlechter und entwickelten immer mehr Lebensmittelunverträglichkeiten.
Wildschweine schmackhaft machen
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Noch ein anderes Thema beschäftigt die Stiftung: „Es besteht die Gefahr, dass durch die vielfältigen Einflüsse anderer Küchen die katalanische Kochtradition und damit ein Stück Kultur verloren geht“, sagt Arantxa Calvera und verweist auf „El Llibre de Sent Soví“, das wohl erste Kochbuch auf der Iberischen Halbinsel und eine der ersten Publikationen in katalanischer Sprache, erschienen im Jahr 1324. Mit über zweihundert Rezepten legte es die Grundlage für eine lange Tradition und die charakteristischen Kombinationen der katalanischen Küche: süß und salzig – bei Gerichten wie Espinacas a la catalana, Spinat mit Rosinen und Pinienkernen –, sowie Mar i Muntanya, Meer und Gebirge, die Vereinigung von Fisch und Fleisch, etwa in Form von Pollastre amb llagosta, Hühnchen mit Languste.
Um diese Traditionen zu bewahren, erforscht die Stiftung, wie man klassische katalanische Rezepte an moderne Geschmäcker anpassen und zudem noch auf bestimmte Krankheitsbilder abstimmen kann. Das Wissen gibt sie in Form von Broschüren, Büchern und im Internet weiter, dazu bei Workshops an Schulen und für Mitarbeitende von Schul-, Krankenhaus- und andere Großküchen.
Wie kann man sich das konkret vorstellen? „Nehmen wir als Beispiel Hülsenfrüchte“, sagt der Brasilianer Vinicius Capovilla, der als Biologe im Team von Adriana Gálvez arbeitet. „Sie sind traditioneller Bestandteil der Mittelmeerdiät und preiswerte Eiweiß- und Eisenlieferanten. Aber viele wissen nicht viel damit anzufangen.“ Er zieht ein dickes Buch aus dem Regal, das die Fundació Alícia herausgegeben hat. Die Hülsenfrüchterezepte darin gehen weit über Allerweltsgerichte wie Hummus hinaus und machen sich die innovativen Kreationen der katalanischen Spitzenköche zu eigen.
„Man kann Linsen zum Beispiel mithilfe eines Siphons aufschäumen. Dann verlieren sie ihre Schwere, gleichzeitig bekommen sie mehr Volumen. Das ist gut für Diabetiker, die dadurch das Gefühl bekommen, mehr Sättigendes zu essen“, erklärt Capovilla. Ebenso lasse sich aus Hülsenfrüchten auch etwas Knuspriges oder Gelatineartiges machen. „Wir arbeiten mit verschiedensten Texturen, die wir uns von den Küchenchefs abgeguckt haben.“
Gleichzeitig versucht die Stiftung, bestimmte Produkte zu promoten. „In Katalonien haben wir gerade eine Wildschweinplage. Aber viele Köche wagen sich an die Tiere nicht heran. Wir versuchen, es ihnen schmackhaft zu machen“, sagt Vinicius Capovilla. „Oder das Thema Fisch“, wirft Adriana Gálvez ein. „Die meisten Menschen hierzulande kaufen immer dieselben Sorten: Lachs, Seehecht oder Kabeljau.“ Dabei hätten die hiesigen Fischer Probleme, ihren regionalen Fang loszuwerden, sagt Gálvez. „Es gibt Tintenfischsorten, die sehr schmackhaft sind und viel günstiger als die üblichen Calamars. Doch kaum jemand kennt sie.“ Im Delta des Ebro wiederum gebe es zurzeit eine Schwemme von Blaukrabben, auch die gelte es, den Verbrauchern nahezubringen.
Bei der Ernährung in Krankenhäusern und für Menschen mit speziellen Erkrankungen geht die Frage nach den richtigen Rezepten über Produktvielfalt hinaus. Oft würde Patienten nur gesagt, was sie nicht essen dürfen. „Wenn sie dann noch unter Appetitlosigkeit leiden und keine Lust zum Kochen haben, läuft es selten auf eine ausgewogene und heilsame Ernährung hinaus“, sagt Adriana Gálvez. Deshalb haben die Ernährungsexperten inzwischen Essempfehlungen für insgesamt sechzig Krankheitsbilder entwickelt, von Bluthochdruck über Schuppenflechte und Schlafproblemen bis hin zu verschiedenen Krebsarten. Dabei geht es vor allem darum, Sekundärerscheinungen wie Übelkeit, Verstopfung oder Probleme mit der Mundschleimhaut zu lindern
Im Internet veröffentlichen sie unzählige Rezeptideen, auch auf Englisch, die ganz genau auf die jeweiligen Diätvorschriften und Befindlichkeiten abgestimmt sind. Wo bei Epileptikern ein Pizzateig aus gemahlenen Mandeln für einen möglichst hohen Fettgehalt sorgen soll, eignet sich für Diabetiker eher eine kohlehydratarme Teigbasis aus Möhren. Auf den Menüplänen stehen leichtverdauliche Fisch-Kürbis-Flans, Rote-Bete-Crémes mit Minze, Hamburger aus Kichererbsen und Pilzen, erfrischende Apfel-Gurken-Kaltschalen oder Birnen-Granizados mit grünem Tee. So kann sich eine Genesung katalanisch schmecken lassen.
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