Essen für Bedürftige: Der Tafelkrieg

Weil es immer mehr Arme gibt, gibt es auch immer mehr Tafel-Einrichtungen. Und weil es immer mehr Tafeln gibt, machen diese sich gegenseitig Konkurrenz.

Die "Tafel"-Idee ist schlicht und überzeugend: Überschüssige Lebensmittel werden eingesammelt und weitergegeben. Bild: dpa

Dies ist keine Weihnachtsgeschichte. Nichts, was das Herz wärmt oder das Gewissen entlastet. Die Armen sind nicht nur arm dran, die Helfer sind nicht nur gut. Der Konzern ist nur ein bisschen böse. Und der Staat nicht nur dumm. Es gibt kein Happy End in dieser Geschichte. Und alles ist grau.

Grau, grau und kalt wie dieser Nachmittag auf dem Franz-Neumann-Platz in Berlin. Die Weihnachtszeit hat ihren Kitsch abgeladen, und auf dem gesichtslosen Platz im Stadtteil Reinickendorf stehen knapp hundert Menschen um einen kleinen Bus herum. Flugzeuge im Anflug auf den nahen Flughafen donnern über sie hinweg. In einer Ecke steht Andrea. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Die 38-jährige Mutter, eine gelernte Verkäuferin, ist mit drei anderen Müttern aus der Hochhaussiedlung Märkisches Viertel am Stadtrand von der dortigen Lebensmittel-Ausgabestelle hierher gefahren. "Ist Krieg dort", sagt sie. Ein Krieg der Armen ums Essen. Aus dem Kleinbus heraus verteilen die Ehrenamtlichen der Initiative Menschen helfen Menschen in und um Berlin e. V. (MHM) Lebensmitteltüten an Arme, denen Geld fürs tägliche Brot fehlt.

Um Geld zu sparen, vier U-Bahn-Tickets wären zu teuer, ist Andrea mit einem Familienwagen gekommen. Die vier Mütter füllen den Kofferraum mit ihren Lebensmitteltüten. Wie die anderen bezieht Andrea Hartz IV - und gerade am Ende des Monats seien ein Joghurt oder Gemüse für die Kinder nicht mehr drin: "Geht nicht, man kann es sich nicht mehr leisten." Hier bekomme sie auch mal eine Wurst, anders als im Märkischen Viertel. Ihr Mann, ein Dachdecker, ist arbeitslos. Er hat sich beim Fußball die Menisken gerissen. Na ja, meint sie sarkastisch, der Geldmangel sei "gut für die Gesundheit". Um die paar Euro zu sparen, hat sie mit dem Rauchen aufgehört.

Am Kleinbus steht Martina Radowski, eine Berlinerin wie aus dem Bilderbuch, großes Herz, große Klappe, große Hand, wie Bismarck so ähnlich einmal gesagt haben soll. Die 48-jährige Großmutter mit der blauen Brille zum blonden Lockenkopf ist eine gelernte Fleischverkäuferin, seit zwei Jahren arbeitslos. Sie hat sich selbst Türkisch beigebracht. Auch das hilft. Die Menschen, denen sie die Obst- und Gemüsetüte reicht, siezt sie: "Ich möchte, dass die Leute ihre Würde behalten." Aber auf Berliner Art rutscht sie natürlich schnell ins Du. "Warte, warte, mein Baby", sagt sie zu einem Mann, der sich vordrängelt. Das stört sie nicht, aber auch Martina Radowski redet von einem "Krieg". Sie meint den Streit mit der Berliner Tafel.

Mitte November gab es eine Art Tafelkrieg in der Hauptstadt: die große Berliner Tafel mit ihren 45 Ausgabestellen in Kirchengemeinden einerseits gegen Menschen helfen Menschen (MHM) und die Lichtenberger Hilfe andererseits. Alle drei ehrenamtlichen Organisationen sammeln in Berlin überschüssige Lebensmittel ein, sortieren die brauchbare Ware aus und verteilen sie dann an Bedürftige. Zum Streit kam es, als die Supermarktkette Lidl den Tafeln Anfang November zusicherte, dass diese bundesweit exklusiv Lebensmittel erhielten - so zumindest verstand die Berliner Tafel die Vereinbarung.

Plötzlich mangelte es MHM und der Lichtenberger Hilfe an Lebensmitteln. Der Pfarrer einer Kirche in Charlottenburg und ein MHM-Mitarbeiter stritten heftig vor einem Lidl-Supermarkt. "Der wollte uns unsere Ware abspenstig machen", schimpft ein MHM-Helfer. "Das ist total eskaliert", erzählt der ehrenamtliche MHM-Geschäftsführer Horst Schmiele, ein 56-jähriger Bürokaufmann, der seit vier Jahren arbeitslos ist. Der MHM-Helfer spuckte vor dem Pfarrer aus, dieser zeigte ihn an. "Ick will keenen Krieg haben", berlinert Peter Wöhler, der 42-jährige Leiter der Lichtenberger Hilfe. Schmiele pflichtet ihm bei: "Konkurrenz im sozialen Bereich ist das Allerletzte."

Aber es gibt diese Konkurrenz - und ein Grund dafür ist der Boom der Tafel-Idee. Vor 15 Jahren wurde die erste Tafel in Berlin gegründet. Vor fünf Jahren waren es noch 320, heute sind es über 800 Tafeln in ganz Deutschland. In fast jeder Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern gibt es eine Tafel. Innerhalb der vergangenen drei Jahre verdoppelte sich die Zahl der regelmäßig versorgten Menschen von 500.000 auf etwa eine Million, so der Chef des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V., Gerd Häuser. Millionenwerte wurden schon bewegt, 35.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer gibt es. Es ist es nicht übertrieben, wenn der Verband schreibt, die Tafeln seien "zu einer der größten sozialen Bewegungen unserer Zeit geworden".

Der Boom der Tafeln aber ist nur auf dem Hintergrund des staatlichen Versagens möglich. Es könne nicht sein, "dass sich der Staat aus der Verantwortung für seine Bürger stiehlt", empört sich Tafel-Chef Häuser: "Der ,Erfolg' der Tafeln zeigt leider, in welchem Maße es dem Staat eben nicht gelingt, Millionen Menschen mit den zum Leben notwendigen Mitteln zu versorgen." Die Tafeln füllten "eine größer werdende sozialpolitische Lücke": "Die Tafeln springen hier immer häufiger in die Bresche. Ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht."

Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung arm oder von Armut bedroht - trotz staatlicher Hilfe! Etwa ein Viertel der Tafel-Versorgten sind Kinder und Jugendliche. Noch mehr sind es in Großstädten, in Berlin etwa ist ein Drittel der Empfänger unter 18. Und es gibt einen Skandal im Skandal: Häuser betont, die von Tafeln versorgten Menschen seien "bereits Empfänger staatlicher Transferleistungen" wie etwa dem ALG II: Sie würden nicht zu den Tafeln kommen, wenn sie ihre finanzielle Lage nicht "als absolut prekär" erleben würden. Und: "Es ist sicher kein Zufall", dass die Zahl der Tafeln seit Einführung der Hartz-Gesetze 2003 von 230 auf über 800 explodierte: "Die soziale Sicherung hierzulande reicht nicht aus."

Nur so halb bestätigt dies Herma Schulz, die für die Eberswalder Tafel in Brandenburg arbeitet. Die 56-Jährige sitzt mit ihrem ehrenamtlichen Chef, dem 28-jährigen Christoph Schulz, in einem winzigen Büro. Es liegt in einem einstöckigen Backsteinbau, der im Hof des Evangelischen Zentrums von Eberswalde zu finden ist. Nebenan werden Bedürftige in einer Suppenküche versorgt, alles wirkt familiär und gemütlich.

Doch die jahrelange Arbeit mit den Armen im staatlich verordneten Mangel hat Herma Schulz, bei aller Freundlichkeit, bitter gemacht: Viele Bedürftige hätten trotz staatlicher Hilfe schon in der zweiten Woche des Monats nicht mehr genug Geld, um zurechtzukommen. Sie strömten zu ihnen, weil sie "nicht in der Lage sind, ihr Geld einzuteilen". Es gebe häufig so ein "Anspruchsdenken: Ich kriege Hartz IV, also bin ich arm". Dies sei auch ein "psychologisches Problem", ergänzt Christoph Schulz. Das Anspruchsdenken mancher Bedürftiger tue nicht zuletzt den Tafel-Helfern gelegentlich "weh", sagt er: "Die Leute poltern hier so rein." Das bestätigt Herma Schulz: "Die wirklich Bedürftigen haben eine Scham", sagt sie, "die sind so bescheiden." Andere dagegen "fahren mit großem Auto vor."

Die Armut korrumpiert, der Mangel erodiert die Solidarität untereinander, die Schwächsten werden verdrängt. "Den klassischen Obdachlosen" erreiche man mit der Tafel kaum mehr, sagt Christoph Schulz, ein adrett gekleideter Mann mit scharfem Scheitel. Durch die starke mediale Beachtung des Tafel-Booms und der Hartz-IV-Problematik fühlten sich "viel mehr Menschen anspruchsberechtigt" und "rennen zur Tafel". Offiziell verkündet der Bundesverband, mit der Lebensmittelvergabe helfe man Menschen, "eine schwierige Zeit zu überbrücken" und gebe ihnen "dadurch Motivation für die Zukunft". "Hier gibts keine Motivation", kommentiert Herma Schulz trocken. Es gebe, von der Oma über die Mutter bis zum Enkel, "ganze Familien", die sich in der "Sozialhilfe-Karriere" eingerichtet hätten, "total". Nur in Einzelfällen könne man helfen, der Misere zu entkommen.

Die Versorgung der Armen mit überschüssigen Produkten der Wohlstandsgesellschaft ist auch ein Markt geworden, ein harter Markt. Herma Schulz berichtet vom "Konkurrenzdenken" unter den Tafeln. Querelen um Lebensmittel etwa gebe es zwischen den Tafeln von Strausberg und Erkner, zwei Vororten im Osten Berlins. Ihre eigene Tafel hätte im Clinch mit der Tafel von Bernau gelegen: "Wir sind so dicht beieinander", sagt Herma Schulz. "Es gab Krieg - jetzt herrscht Waffenstillstand."

Walid Zankari, ein 40-jähriger MHM-Fahrer räumt gerade Brotpaletten in einen Kleinbus - er fordert dazu auf, noch mehr einzuladen: "Ende des Monats", ruft der glatzköpfige Charmebolzen, "die Leute brauchen Brot." Er strahlt, als er durch die Hauptstadt kurvt. Mögen manche Helfer auch über sinnlose Umwege und andere Fehlplanungen bei MHM meckern, ihm macht die Arbeit Spaß. "Menschen zu helfen, glaube ich, dafür bin ich zuständig", sagt er lachend.

Mitten auf dem Großmarkt Berlin hat Sabine Werth, die Leiterin der Berliner Tafel ihr Büro. Sie gehört bundesweit zu den Gründerinnen der Tafeln, alles läuft hier wie am Schnürchen. Sabine Werth warnt: Man müsse verhindern, dass es einen "Tafeltourismus" gebe. Bedürftige dürften sich nicht durch das Abgrasen mehrerer Tafeln ganz von dieser Hilfe abhängig machen - auch aus politischen Gründen. Wenn die Politik dies spitz kriege, könnten die Leistungen gekürzt werden: "Das haut sie uns dann um die Ohren - und dann sind wir alle erledigt." Sabine Werth ist eine toughe Frau. Jüngst hat sie die Berliner Tiertafel verklagt, weil sie den geschützten Namen Tafel nutzt.

Übrigens: Die beiden größten Lebensmittelmärkte im Raum Eberswalde liefern ihre Lebensmittel nur an den örtlichen Zoo - "da kommen wir nicht an", sagt Herma Schulz. Sie schlug dem Zoodirektor vor, von den überschüssigen Lebensmitteln zunächst das Bessere für Menschen herauszusortieren - die zweite Wahl den Tieren zu geben. Ohne Erfolg. Die Tafel der Tiere im Zoo Eberswalde ist reich gedeckt.

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