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Essay zum Nationalismus in EuropaWas heißt eigentlich Integration?

Kommentar von Micha Brumlik

Der Glaube, MigrantInnen müssten sich in eine Tugendgemeinschaft einpassen, konkurriert mit dem liberalen Rechtsstaat.

Ein Flüchtlingskind wird in Stuttgart eingeschult Foto: dpa

E s sind keineswegs nur AfD- oder Pegida-AnhängerInnen, die sich die Frage stellen, ob die deutschen Grenzen noch sicher sind und wie Millionen von Flüchtlingen integriert werden können. Auch ansonsten durchaus mittig denkende, akademisch gebildete BürgerInnen, aber allemal auch PolitikerInnen aller Parteien stellen sich diese Frage. Dabei bleibt eines offen: Was soll überhaupt unter „Integration“ verstanden werden? Ebenso ungeklärt bleibt, wohin beziehungsweise in was überhaupt integriert werden soll.

Die öffentliche Meinung schwankt dabei zwischen einer Integration in ein Volk, eine Kultur, eine Werteordnung oder in eine Nation hin und her. Im Folgenden sei zunächst zwischen einem „dünnen“ und einem „dichten“ Begriff der Integration unterschieden. Der deutsche Staat, so wie er faktisch existiert, beziehungsweise der heute in Europa übliche Nationalstaat soll hier als dasjenige verstanden werden, wohin integriert werden soll.

Daher ist zunächst zwischen der Bevölkerung eines Staates und seiner BürgerInnenschaft zu unterscheiden. Die Bevölkerung ist die Summe aller Menschen, die in den Grenzen eines Staates leben – seien sie Babys oder auf einige Zeit im Lande lebende TouristInnen. Sie alle genießen Rechte, haben jedoch in der Regel keine Möglichkeit, das Setzen oder Ausgestalten dieser Rechte zu beeinflussen.

Wenn das einleuchtet, folgt daraus im Umkehrschluss, dass Staaten in allererster Linie territorial begrenzte „Rechtsgemeinschaften“ sind. Auf jeden Fall unterscheiden sie zwischen Staatsangehörigen, die bestimmte Schutz- und auch Gestaltungsrechte besitzen, und einfachen BewohnerInnen. Letztere haben keine Gestaltungs-, genauer gesagt: Rechtsetzungsrechte.

Sprache als Integrationskriterium

Die Frage, was es heißen soll, in eine Bevölkerung integriert zu sein, ist sinnlos. Die Frage allerdings, was es heißt, in eine solche Rechtsgemeinschaft integriert zu sein, erfordert sinnvolle Antworten.

Um erfolgreich Mitglied einer Rechtsgemeinschaft zu sein, ist es nötig, die Sprache zu beherrschen, in der die entsprechenden Fragen verhandelt werden. Sodann müssen Mitglieder in der Lage sein, jene Themen, die rechtlich bestimmt werden sollen, wahrzunehmen und zu beurteilen. Dafür ist es zudem notwendig, nicht so weit gegen die herrschenden Gesetze verstoßen zu haben, dass man von dieser Mitwirkung aufgrund strafrechtlicher Bestimmungen ausgeschlossen ist.

Die Verfechter einer Leitkultur streben nach einer Tugendgemeinschaft

Damit wäre, sofern man die Definition von Nation als Rechtsgemeinschaft akzeptiert, ein „dünner“ Begriff von Integration gewonnen: Integriert ist, wer nicht gegen die herrschenden Gesetze verstößt, die jeweilige Umgangssprache beherrscht und in der Lage ist, sich an entsprechenden Diskursen zu beteiligen.

Freilich wird dieser „dünne“ Begriff von Nation und Integration keineswegs von allen geteilt. Vielmehr ist es so, dass wohl die meisten TeilnehmerInnen an der Flüchtlingsdebatte unter Nation so etwas wie „Volk“ verstehen. Dabei soll Volk eine Gemeinschaft von Menschen bezeichnen, die eine gemeinsame Herkunft, Sprache, Geschichte und Kultur teilen sowie gemeinsame Vorstellungen davon haben, was gut oder gerecht ist beziehungsweise „was sich ziemt“.

Diesem Begriff des Volks entspricht dann ein „dichter“ Begriff der Integration: Integriert ist nicht nur, wer gesetzestreu ist, die Umgangssprache beherrscht und sich gegebenenfalls an politischen Diskursen beteiligen kann, sondern wer zudem auf eine Geschichte seiner Familie im jeweiligen Lande zurückschauen kann und sich im alltäglichen Leben an den jeweils herrschenden Werten orientiert, die allemal weit über schlichte Gesetzestreue hinausgehen.

Welcher Begriff ist realitätsnah?

Infrage steht damit, welchem dieser Staats- beziehungsweise Integrationsbegriffe der Vorzug zu geben ist. Genauer gesagt: Welcher Begriff stimmt erstens mit den Realitäten im Lande besser überein? Zweitens: Welcher ist einem politischen Begriff von Nation eher angemessen?

Daher ist zunächst zu fragen, ob die Gesellschaft – hier die der Bundesrepublik Deutschland – tatsächlich einem „dichten“ Begriff von Integration entspricht.

Das ist eindeutig nicht der Fall. Was richtig und gut ist, wird unterschiedlich beantwortet, den gemeinsamen Nenner gibt es nicht: Weder sind die Einkommensverhältnisse einigermaßen gerecht, noch ist diese Gesellschaft besonders kinderfreundlich. Auch die Scheidungsrate ist nicht rückgängig – im Gegenteil. Zudem: Die Mitgliederzahl der großen Kirchen nimmt stetig ab.

Kurz, jene, die sich um den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen, können selbst keinen tragfähigen Begriff von dem aufweisen, was es heißen soll, dass eine Gesellschaft und ihre Mitglieder „integriert“ sind.

Gleichwohl führen sie gerne ein gleichsam hartes Minimum ins Feld: die Leitkultur. Zu der gehört die Gleichberechtigung von Frauen und die Akzeptanz, nicht nur Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Liebes- und Paarbeziehungen ebenso wie der Wunsch, dass Frauen ihr Haar zeigen.

Diese Leitkultur bestehe in den Werten des Grundgesetzes, an erster Stelle der in Artikel 1 postulierten „Würde des Menschen“. Dass dieses Postulat zunächst nur die staatlichen Organe und nicht die einzelnen BürgerInnen bindet, wird dabei kaum beachtet.

Stichwort: Tugendgemeinschaft

Es zeigt sich, dass jene, die eine „Leitkultur“ für alle verbindlich machen wollen, weniger nach einer politischen denn nach einer Tugendgemeinschaft streben. Tugendgemeinschaften aber zeichnen sich durch den Wunsch nach widerspruchsfreier Konformität mit Blick auf bestimmte Werte, das heißt Bilder vom guten Leben, aus. Beispiele dafür sind etwa Klostergemeinschaften.

Politische Gemeinschaften dagegen sind, jedenfalls nach Hannah Arendt, etwas anderes. Es sind öffentliche Räume, in denen über unterschiedliche Interessen sowohl mit Blick auf materielle Güter als auch Vorstellungen vom guten Leben Streit ausgetragen und auf Zeit entschieden werden kann – unter Verzicht auf Gewalt und im Rahmen der Herrschaft des Rechts.

Damit erweist sich ein weiteres Mal, dass politische Gemeinschaften stets Rechtsgemeinschaften sind und sein müssen. Anders bedürfen Tugendgemeinschaften einer Rechtsordnung gar nicht, da der konforme Wille ihrer Mitglieder ihren Zusammenhalt garantiert.

Mit anderen Worten: All jene, die unter Integration die Einpassung in eine Tugendgemeinschaft verstehen, sind nicht bereit, im Rahmen eines politischen Gemeinwesens mit anderen zusammenzuleben.

Das geht dann im Falle der anfangs erwähnten Pegida-AnhängerInnen und ihrer intellektuellen Wortführer wie etwa Alexander Gauland durchaus so weit, dass sie jenen Wertekonsens, der die Bundesrepublik bisher prägte, aufkündigen. Sie reden neuerdings einer – wenn auch weich- und weißgewaschenen – völkischen oder eben nationalistischen Ideologie das Wort.

Aufkündigung der Rechtsgemeinschaft

Im Extremfall sind die einen oder anderen AnhängerInnen dieser Auffassung von Nation auch bereit, nicht nur die liberale Alltagskultur, sondern auch den Rechtsfrieden abzusagen und offen zum Widerstand aufzurufen.

Das aber heißt nichts anderes, als dass ein Teil jener, die die Nation als homogene Tugendgemeinschaft verstehen wollen, paradoxerweise die Prinzipien und Werte des liberalen Rechtsstaates, der Rechtsgemeinschaft aktiv und folgenreich aufkündigt.

Es geht also bei der Frage der Integration weniger um den Gegensatz von links und rechts als vielmehr um die Frage, ob die Rechtsgemeinschaft des Grundgesetzes und die von ihr gerahmte Alltagskultur der Verschiedenheit und des friedlichen Austragens einander widerstreitender Interessen verschiedenster Art auch künftig weiterbestehen soll oder nicht.

Tatsächlich – und das übersehen die neuen FürsprecherInnen eines „dichten“ Integrationsbegriffs – hat die Bundesrepublik seit den 1970er Jahren große Erfolge bei der Integration von ImmigrantInnen aller Art aufzuweisen: Weder hat es Gettobildungen wie etwa in manchen Städten der USA gegeben, noch konnte bisher ernsthaft gezeigt werden, dass sich sogenannte Parallellgesellschaften herausgebildet hätten.

Der Hinweis auf Gerichtsverfahren vor muslimischen Friedensrichtern unter Umgehung ordentlicher Gerichte verfängt schon deshalb nicht, weil es keineswegs nur Muslime sind, die sich dieser Praktiken bedienen: Innerhalb straffälliger Milieus waren solche Schiedsgerichte seit jeher ein probates Mittel, staatliche Instanzen davon abzuhalten, das eigene kriminelle Business zu stören.

Rücknahme liberaler Spielräume

An der so harmlos klingenden Frage, was genau unter „Integration“ verstanden werden soll, wird sich entscheiden, ob viele Länder des westlichen Europa – Frankreich allen voran – jenen Weg einschlagen werden, für den heute beispielhaft Ungarn, nun aber auch Polen, sowie Tschechien und die Slowakei stehen.

Das wäre der Weg eines integralen Nationalismus. Dieser gibt zwar noch vor, die „westlichen“ Freiheiten und liberalen Errungenschaften zu bewahren. Aber seine Logik ist auf eine ständige Rücknahme liberaler Spielräume angewiesen. Entgegen seinen eigenen Absichten ist er gerade nicht dazu in der Lage, die durch Immigration entstandenen gesellschaftlichen Spannungen zu mildern.

Dem hier vertretenen „dünnen“ Begriff der Integration geht es nicht darum, eine multikulturelle Gesellschaft durchzusetzen. Es geht schlicht um eine Gesellschaft, die ihrem Wesen nach immer schon multikulturell, weil liberal sein soll. Sie eröffnet daher die Möglichkeit, Freiheit und Gleichheit für alle zu erkämpfen: unaufgebbare Vorbedingung eines linken Projekts!

Den anderen jedoch ihre Verschiedenheit zunächst zuzugestehen, heißt nichts anderes, als für das einzustehen, was etwa Adorno unter Freiheit verstand: ohne Angst verschieden sein zu können.

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Autor und Kolumnist
1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“
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19 Kommentare

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  • n´interessanter Beitrag vom verehrten Herrn Dr. Brumlik..ja.. historisch fundiert.. und wohl auch eigenes Erfahrungswissen (?).

    Mir kommt jedoch in den Sinn: all die grossen, historischen Erzählungen, die das Soziale Lebensdasein beherrschten..die grossen Tugendgemeinschaften,(Religionen) Volksgemeinschaften, `Heimatgesmeinschaften´etc. sind doch irgendwie .. soziologisch OUT!

    Und existieren eigentlich nur noch in etwa, in privaten `Lifestyle´Gruppierungen!

    Ich meine das familiäre, religiöse und Kulturhistorische Heimat-Tradition im Privaten stattfindet!

    Der, vom Staat und Regierung, über die Medien, inspirierte Soziale Diskurs,

    ob Machtpolitisch/propagandistisch/ historisch etc. geprägt, findet Anerkenntnis oder Kritik und Ablehnung im Feld des Privaten. Primär im naiven, (Subj./Obj.) kosmopolitisch/ futuristischen Lebensgefühl für "Hoffnung", der Jugend. (siehe die Smartphone und SocialMedia Kultur der Jugend! Dort wird auf die Realpolitik gepfiffen!)

    Herr Brumlik argumentiert, m.E. zu sehr historisch analytisch/sozial.

    OK ist sein Hinweis auf das "unaufgebbare Linke Projekt" und auf

    Adorno´s (jugendlichen) Freiheitsbegriff!

  • Können wir diese Diskussion auch mit Etienne Balibars Egaliberté / Gleichfreiheit weiterführen?

    Dabei geht es um soziale und Bürgerrechte und Zugang von Ressourcen jenseits des Nationalstaats, bzw. über die Staatsangehörigkeit hinaus.

  • 7G
    72677 (Profil gelöscht)

    Das hier verstehe ich nicht

     

    "Gleichwohl führen sie gerne ein gleichsam hartes Minimum ins Feld: die Leitkultur. Zu der gehört die Gleichberechtigung von Frauen und die Akzeptanz, nicht nur Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Liebes- und Paarbeziehungen ebenso wie der Wunsch, dass Frauen ihr Haar zeigen.

    Diese Leitkultur bestehe in den Werten des Grundgesetzes, an erster Stelle der in Artikel 1 postulierten „Würde des Menschen“. Dass dieses Postulat zunächst nur die staatlichen Organe und nicht die einzelnen BürgerInnen bindet, wird dabei kaum beachtet."

     

    Soll das heißen Homophobie (ich selbst bin auch queer) ist durch Einzelpersonen zu ertragen, weil das echte Demokratie ist? Oder verstehe ich gerade was falsch? Ich will eigentlich gar nicht so klingen, aber wenn ich so etwas lese, dann triggert mich das, dann bekomme ich Angst vor der Zukunft, die durch wertkonservative Ansichten meinen Lebensalltag und den meiner Freund_innen durch die hier genannte "Veränderung" beeinflussen könnte. weil ich weiß was das heißt. Das würde bedeuten, dass Diskriminierung als Meinung einzelner akzeptiert wird.

     

    Ist der Autor ein heterosexueller, weißer Mann, der nicht weiß was Diskriminierung ist, weil er sie nicht erlebt?

     

    Das macht mir wirklich Sorgen, wenn ich das richtig verstanden habe!

    • @72677 (Profil gelöscht):

      "Ich will eigentlich gar nicht so klingen, aber wenn ich so etwas lese, dann triggert mich das, dann bekomme ich Angst vor der Zukunft..."

       

      Rauchen Sie mal einen Joint und üben Sie Yoga, das entspannt.

  • ATALAYA :

    "...Stattdessen sehe ich Hedonisten und Narzissten um den größten und hohlsten Spaß buhlen. Die Mehrheit der Gesellschaft scheint mir nur hier noch integriert, ja wahrscheinlich war Thatchers Wort von der nichtexistierenden Gesellschaft ("there is no such thing as society") eine selbsterfüllende Prophezeiung."

     

    Thatcher hat diese (vorwegnehmende) 'Erkenntnis' affirmativ zum Programmsatz ihrer neoliberalen Politik gemacht . Inzwischen sind die Gesellschaften auf dem Weg der Atomisierung ihrer Mitglieder fortgeschritten . Im gleichen Zuge , wie ihr Gesellschaftssystem der Warenproduktion - der Kapitalismus - prekärer wurde und immer mehr Menschen als "Überflüssige" entläßt , verhielten und verhalten sich die Gesellschaftsmiglieder untereinander zunehmend als Konkurrenz-Subjekte : - ganz oben Konkurrenz um "den größten und hohlsten Spaß" bis hinunter zur Konkurrenz selbst noch um ein dürftiges Überleben (AfD , Pegida) .

    Das Absurde der geschichtlichen Situation : Das System erstickt an seiner "Überproduktivität"(!) ...

    - und die Massen der "kapitalistischen" Konkurrenz-Subjekte sind unfähig , das zu erkennen und die n o t - wendenden Schlüsse daraus zu ziehen .

  • vor einiger zeit traf ich in naumburg einen mann aus türkisch-kurdistan. ihn nach heimweh befragt, sagte er schnunzelnd: "ach, ja, ich kann inzwischen etwas deutsch, bin zweisprachig aufgewachsen - ich habe drei heimaten."

  • Instruktive und nachvollziehbare Argumentation, vielen Dank dafür. Ein Anwendungsfall wurde allerdings vergessen: wenn die "Rechtsgemeinschaft des Grundgesetzes und die von ihr gerahmte Alltagskultur der Verschiedenheit und des friedlichen Austragens einander widerstreitender Interessen verschiedenster Art" nicht von den Amok laufenden Altbürgern, sondern von (Teilen der) Neubürger infrage gestellt wird. Wenn also das mitgebrachte Rechts- und Staatsverständnis nicht recht kompatibel ist mit der liberalen Aushandlungsdemokratie. Das Unwohlsein darüber, ob bzw. wie weit diese Haltung bei den Neubürgern, die darüberhinaus in großer Zahl auftreten, verbreitet ist, scheint mir derzeit der Kern des breiten Protests im nichtextremen Bereich des Konservatismus zu sein.

  • Ein sehr schöner Artikel!

    Was ich als das größte Problem ansehe, das die meisten Menschen das Bewährte bewahren und erhalten wollen, weil auf diesem Wege die vermeintliche Sicherheit gewährleistet ist.

    Das Leben besteht aber aus Veränderung. Das heutige Deutschland wäre ohne Veränderung, ohne Innovation noch nicht einmal ein Entwicklungsland.

    Jeden Tag, ja jede Minute ändern sich Lebensbedingungen, Situationen, das Wetter und wir sind ständig aufs Neue gefordert, uns damit auseinander zun setzen, darauf zu reagieren.

    Wenn wirklich alles so geblieben wäre, wie es war, säßen wir vermutlich noch ohne Feuer irgendwo in einer Höhle und hätten noch nicht einmal den Faustkeil.

    Das Einzige was wirklich Bestand hat, das ist die Veränderung.

    Alles andere ist ständiger Rückschritt.

    Pegida schürt Ängste, die am Leben vorbei gehen.

    • @Ehrlich:

      "Das Einzige was wirklich Bestand hat, das ist die Veränderung.

      Alles andere ist ständiger Rückschritt."

       

      Veränderung heißt nicht unbedingt Fortschritt, sondern kann auch Rückschritt heißen. Wenn ich ein Gesetz habe, das mir gewisse Freiheiten gibt, und jemand kommt, der dieses Gesetz derart verändert, dass mir diese Freiheiten nimmt, dann hat es eine für mich rückschrittliche Veränderung gegeben. Es stimmt nur bedingt, dass Pegida Ängste schürt. Pegida ist ein Sammelbecken für Menschen, die das Gefühl haben, von der Politik alleine gelassen worden zu sein und in eine für sie unsichere Zukunft gestürzt zu werden. Sie fühlen sich "verraten und verkauft", nicht ernst genommen, etc. Statt auf Pegida, AfD, etc. zu hacken und ständig "wie kann man nur!" zu rufen, erwarte ich von der demokr. Politik, Lösungen zu liefern und den Leuten die Ängste zu nehmen. Ein "das schaffen wir schon" ist zu wenig.

      • @Nicky Arnstein:

        Das ist richtig, "Das schaffen wir schon", das ist wirklich zuwenig, zumal doch wohl allen klar ist, wer mit "WIR" gemeint ist.

        Es gäbe ja eine viel gerechtere Lösung: Die Schiffe, die die Waffen in den Nahen Osten liefern, die werden zum menschwürdigen Menschentransport umgerüstet und die Flüchtlinge dann zu dem eigentlichen Verursacher gebracht. In die USA

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    Viele Reden von Integration meinen jedoch Assimilation...

  • "Der Hinweis auf Gerichtsverfahren vor muslimischen Friedensrichtern unter Umgehung ordentlicher Gerichte verfängt schon deshalb nicht, weil es keineswegs nur Muslime sind, die sich dieser Praktiken bedienen: Innerhalb straffälliger Milieus waren solche Schiedsgerichte seit jeher ein probates Mittel, staatliche Instanzen davon abzuhalten, das eigene kriminelle Business zu stören."

     

    Ich bezweifle, dass die „Gerichtsverfahren“ innerhalb straffälliger Milieus einen Justizminister finden, der diese als „befriedend“ einschätzt.

  • Das kommt davon, wenn die, die denken können, sich weigern, es zu tun Weil das, worüber sie nachdenken müssten, igitt ist ihrer Ansicht nach.

     

    Es gibt ihn, den Begriff der Heimat. Er wirkt, und zwar nicht immer positiv. "Im allgemeinen Sprachgebrauch", weiß das Lexikon, "wird er auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen". Für Menschen, die es mit dem Denken nicht so haben, klingt das natürlich viel zu "hochgestochen".

     

    Solche Menschen wollen fühlen, ohne dabei nachzudenken. Für sie ist Heimat so was wie ein Uterus. Ein (Sehnsuchts-)Ort, an dem sie völlig sicher sind, beschützt von Leuten, denen sie blind, taub und stumm vertrauen können. Weil sie ein Teil von ihnen sind, jenseits von allen Identitäten, Mentalitäten, Charaktereigenschaften, Einstellungen und Weltauffassungen, jenseits von Zeit und Raum.

     

    In diesen nahezu heiligen imaginären Ort namens Heimat sollen nun noch andere "Kinder" aufgenommen werden, "intergriert", um mal das Fremdwort zu verwenden. Möchtegern-Babys reagiert darauf mit verstärkter Ablehnung. Kinderpsychologen kennen dieses Phänomen. Es tritt dann auf, wenn ein Geschwisterchen geboren wird, und Eltern danach grobe Fehler machen im Umgang mit dem "großen" Kind.

     

    Leider lebt auch der "moderne Nationalstaat" noch davon, dass ein Teil seiner Mitglieder von Regression träumt, vom Rückzug in den Mutterleib also. Von "territorial begrenzte[n] 'Rechtsgemeinschaften'" hingegen träumt er hingegen nie. Und dass "die Frage, was es heißen soll, in eine Bevölkerung integriert zu sein" gar keinen Sinn ergibt, ist ihm schlicht scheißegal. Gestellt gehört die Frage trotzdem immer wieder. So lange, bis DAS KIND kapiert: Es ist in Ordnung, "groß" zu sein. Wenn Mama das zwar sagt, es allerdings nicht leben will, wird das nicht reichen, denke ich.

  • ja, und welches deutsch sollen, wollen die menschen lernen, die ins land kommen? das deutsch von helmut kohl, erich mielke, wolfgang schäuble, stoiber edmund, von und zu guttenberg - oder dieser RTL-kulturbotschafter?

     

    stimmt, mir fielen nur männer ein. also, das deutsch einer ursula von der leyen oder claudia roth sollte ich noch anbieten...

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Offenbar scheint es eine Reihe Menschen in Deutschland zu geben, die Angst vor der Verschiedenheit haben, weil sie eine vermeintliche Einheit gefährdet sehen.

     

    Im eigenen Empfinden habe ich diese Einheit einmal gespürt, nämlich in meiner Kindheit in den 60ern. Aber schon mit den 70ern kam Farbe hinzu, nicht nur im Fernsehen. Aber es war fast alles friedlich, bis auf die "Langhaarigen", die RAF und eine Halbe Million Arbeitsloser, die als Faulenzer verschrien waren.

     

    Was mir seither indes prekär geworden scheint, ist eben jene Tugend, auf welche sich die "dichten" Integratoren berufen. Jene Tugend nämlich, die ein integratives Gefühl erst ermöglicht, wenn sie von der großen Mehrheit getragen wird.

     

    Die sehe ich aber nirgends - und sehe sie auch in der Rückschau auf die Kindheit nur als Vergatterungszwang, nicht als Ausdruck von Sittlichkeit. Stattdessen sehe ich Hedonisten und Narzissten um den größten und hohlsten Spaß buhlen. Die Mehrheit der Gesellschaft scheint mir nur hier noch integriert, ja wahrscheinlich war Thatchers Wort von der nichtexistierenden Gesellschaft ("there is no such thing as society") eine selbsterfüllende Prophezeiung.

     

    Eine solche Gesellschaft, die ihre Freiheit missbraucht, statt sie zu gebrauchen, ist in meinen Augen dekadent, ihre Freiheiten nurmehr der Freibrief für Partikularinteressen, ohne jede prägende Kraft für das Ganze.

     

    Dass hier Angst entsteht bei den hedonistisch-narzisstisch Integrierten wie bei ihren vermeintlichen Antipoden von "lechts und rinks", wundert mich nicht, denn viele Flüchtlinge und bereits Zugewanderte wissen offenbar noch sehr genau, was Tugend zu sein habe, während wir lieber von Werten schwadronieren. Denn Werte kann man verlieren oder verkaufen, Tugenden nicht!

  • Hat ein Mensch das Recht auf kulturellen Entfaltungsraum und Gemeinschaft?

     

    Der durchaus formschöne Gedanke, man könne Freiheit für alle schaffen, ist ohne die Menschen gedacht worden. Freiheit und Entfaltung kann auch dünn definiert werden als der Spielraum, den notwendiger Konformismus ihm lässt.

     

    Ich möchte es mal anders ausdrücken: ich weiß nicht was die Zukunft bringt und wie sich Menschen verändern werden und vielleicht sogar müssen, aber es gibt kein historisch adequates Beispiel (suchen Sie ruhig!), das belegt, dass ein „bunter Haufen“ auf Dauer friedlicher miteinander leben kann als eine „homogene Masse“. Kultur und Tradition, vielleicht mag sich an dieser Stelle ein Ethnologe dazu äußern, erfüllen eine gesellschaftlich, unersetzbare Funktion, die nicht durch Wandel nivelliert werden kann.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @Beinemann:

      "Hat ein Mensch das Recht auf kulturellen Entfaltungsraum und Gemeinschaft?"

       

      Ja und es ist ganz einfach. Jeder Mensch hat das Recht auf freie, persönliche Entfaltung. Und diese persönle Freiheit hat dort ihre Grenzen wo diese die Freiheit und die Rechte eines Dritten verletzt. Das ist alles was an Grundsätzen notwendig ist für friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft.

    • @Beinemann:

      Tatsächlich herrscht unter Ethnologen heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Kultur niemals statisch ist sondern sich – abhängig von inneren und äußeren Einflüssen – mal schneller und mal langsamer verändert. Dasselbe gilt für Traditionen, die in der Tat ein universales gesellschaftliches Integrationsmedium darstellen, jedoch nicht einfach nur Vergangenes weiterreichen sondern die Vergangenheit beständig neu interpretieren und dementsprechend modifiziert werden.

      Daraus folgt: Der einzelne Mensch, wie auch die Gesamtgesellschaft, steht in der Verantwortung, das Beste aus Veränderungen zu machen. Sich auf „Unveränderlichkeit“ von Traditionen zu berufen, ist ein ebenso altes wie verbreitetes politisches Machtinstrument, geht aber an der Realität vorbei.

  • Was ich seit Wochen immer wieder sage. Das größte und schwierigste Intergrationsproblem dieser Gesellschaft ist die rassistische Mitte um Pegida und AfD. Das meine ich in keiner Weise zynisch. Gestern gab es ein sehr interessantes Interview im Deutschlandfunk dazu mir Prof. Heitmeyer dazu.