Esoterik für Krisengebeutelte: Der übersinnliche DAX
Es wirkt wie eine Kuriosität in der momentanen Wirtschaftslage: die Esoterikbranche boomt. Sie zeigt, wie sich auch in der Krise Milliardenumsätze machen lassen. Ein Messerundgang.
"Und jetzt bitte ich Erzengel Raphael, alle im Raum einmal ganz fest zu umarmen!", flüstert Cornelia Mallon mit andächtiger Stimme. Ende Februar hörte man es im prall gefüllten Saal 2 des Berliner AVZ-Logenhauses schnaufen, manche Teilnehmer hatten Tränen in den Augen, andere zitterten vor Engelsenergie. Aus dem Vorraum drang das Geschepper vom Buffet, die schwere Holztür knarzte gegen die spirituelle Ruhe der Engelsmeditation an. "Ich bedanke mich bei Erzengel Raphael! Sie können nun die Augen öffnen, sobald Sie bereit sind", sagte Cornelia Mallon zum Abschluss ihrer medialen Livedemo. Dann verteilte sie Flyer, die ihre Berliner Praxis für energetisches Heilwesen bewerben. So funktionierte das auf den Esoteriktagen, die gerade wieder wie ein Wanderzirkus durchs Bundesgebiet ziehen. Insgesamt 20 Stationen machen sie auf ihren Frühlings- und Herbsttourneen in Deutschland. Mit jeweils gut 70 Vorträgen an drei Tagen und Dutzenden von Ausstellern locken sie scharenweise esoterisch denkendes Publikum an.
Die Esoterik-Tage verstehen sich als offene Publikumsmesse zu allen Themen der Esoterik. Bei den jeweils dreitägigen Veranstaltungen finden rund um eine umfangreiche Verkaufsausstellung auch zahlreiche Vorträge und Workshops statt. Deren Themen drehen sich unter anderem um kosmische Energie, geistiges Heilen, Engelsbotschaften oder Seelenreisen. Für 2009 stehen bis Ende Mai noch die Stationen Karlsruhe, Wien, München, Nürnberg und Frankfurt am Main an. Für die Zeit von September bis Dezember hat die veranstaltende ESO-Team GmbH neun weitere Termine geplant. Mehr Informationen unter www.esoterikmesse.de
In Berlin strömten mehrere hundert Besucher von Vortrag zu Vortrag und besichtigten die umfangreiche Ausstellung im ersten Stock. Dort fand sich alles von der Aurafotografie über Geistheilung, Karma und Reiki bis hin zu Tarot und Zen. Auf den Informationstischen stapelten sich Unmengen von Flyern, Broschüren und Katalogen. Es scheint, die allgegenwärtige Wirtschaftskrise ist noch nicht bis in die "feinstoffliche" Ebene vorgedrungen. Hier florieren die Geschäfte nach wie vor.
Es fällt auch nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Anziehungskraft des Übersinnlichen in schweren Zeiten wächst. Denn gerade dann ist eine Flucht aus der Realität sehr bequem. Neben der aktuellen Rezession und der Angst vor Arbeitslosigkeit bescheren auch Faktoren wie häufigere Naturkatastrophen und sich stetig beschleunigende Entwicklungen in einer globalisierten Welt der Esoterikbranche Zulauf. Wie viel genau, lässt sich kaum sagen, schließlich sind Esoteriker von Natur aus eine faktenscheue Gemeinde. Detailliertes Material über diese undurchsichtige Branche gibt es nicht. Die einschlägigen Verbände, etwa der Tarotverband, der Deutsche Astrologenverband oder der Dachverband Geistiges Heilen, erfassen keine aktuellen Umsätze. Beim Astrologenverband spürt man allerdings nichts von der Krise: Die Mitgliederzahlen liegen wie immer stabil um die 850. Die 2. Vorsitzende des DAV, Ute Flörchinger, berichtet sogar von Aufschwung: "Aus meiner eigenen Praxis- und Unterrichtstätigkeit kann ich nur sagen, dass es derzeit besser läuft als etwa noch vor ein bis zwei Jahren und ich von der Rezession nichts spüre." Diesen Eindruck bestätigten auch Kollegen im ganzen Bundesgebiet. Konkretes Zahlenmaterial gibt es allerdings kaum. Die wenigen verfügbaren Fakten trägt die kritische Aktion für Geistige und Psychische Freiheit (AGPF) regelmäßig zusammen und veröffentlicht sie auf ihrer Homepage. Der Jahresumsatz der Esoterikbranche wird dort auf bis zu 10 Milliarden Euro geschätzt.
Bei dem Berater für Persönlichkeitsentwicklung Harald Wolf gab es in Berlin Messerabatt - die Kunden standen Schlange. Der gelernte Schlosser aus Kronberg im Taunus bot für 10 Euro pro Hand eine Handanalyse per Computer an. Kurz die Handfläche auf den Scanner legen, schon druckt der Laptop vollautomatisch ein DIN-A4-Blatt mit einer persönlichen Lebenslinien-Auswertung aus. "1000-mal genauer als das menschliche Auge", sagt Harald Wolf und versucht damit, dem Esoterischen einen technisch fundierten Anstrich zu geben. Als kleine Präsente verteilt er Heilsteine an die umstehenden Interessenten. Auch er braucht sich um seine Zukunft wohl kaum zu sorgen, die Branche expandiert.
So erklärt auch die Biografieberaterin Wiebke Kossecki, dass sie eine stärkere Nachfrage verzeichnet. Vielleicht auch, weil es momentan ratsam erscheint, "durch Biografiearbeit einen neuen Blick auf den Lebensfilm zu werfen" und durch die Verarbeitung von Schlüsselerlebnissen, Krisen, Begegnungen und Chancen ein "Selbst- und Schicksalsbewusstsein" auszubilden.
Nicht nur Dienstleitungen profitieren, es werden nach wie vor Firmen gegründet, die esoterisches Zubehör herstellen: etwa die erst seit wenigen Monaten am Markt agierende Ni-Ma Germany Ltd. Sie produziert "feinstofflich aktive Bettwäsche", die den Schlafenden einen "astral ungestörten Schlaf" ermöglichen und vor unliebsamen Energien schützen - gar energetisch unsichtbar machen soll. Wenigstens vermerkt das Unternehmen in seinen Broschüren, dass "ein Heilerfolg nicht garantiert werden kann" und auch ein "wissenschaftlicher Nachweis bisher nicht erbracht wurde". Das Geschäft laufe trotzdem sehr gut an, erfährt man am Ni-Ma-Stand auf der Esoterikmesse.
Gut scheinen die Geschäfte auch auf der Medienebene zu laufen: Die in Verruf geratene Questico AG, die auch den Fernsehkanal Astro TV betreibt, rühmt sich, mit rund 1,1 Millionen Kunden Deutschlands größter Anbieter für Esoterik im Internet und im TV zu sein. Auch wenn das Unternehmen prinzipiell keine umsatzrelevanten Daten veröffentlicht, bestätigt Sprecher Sven Vogel doch: "Es lässt sich feststellen, dass es schon von jeher so gewesen ist, dass Menschen in Krisenzeiten eher Rat suchen als in Zeiten, wo es ihnen besser geht." Eine Einschätzung, die ihn mit einem seiner Kritiker verbindet. Bernd Harder, Vorstandsmitglied der esoterikskeptischen Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e. V. (GWUP), ist der Meinung: "Es ist absehbar, dass die Wirtschaftskrise natürlich einem bestimmten Zweig der Esoterik starken Zulauf bescheren wird, nämlich den Wahrsagern, Hellsehern und Lebensberatern." Allerdings merkt er an, dass die Anbieter von "barem Unsinn" oder "Luxusesoterik" wohl auch sehr bald unter der Krise leiden dürften. "Ich vermute, dass die Leute hierfür absehbar weder das Geld noch den Sinn haben werden, um sich zum Beispiel mit Außerirdischen, Geistern, Parapsychologie oder Ähnlichem zu beschäftigen."
Wer dennoch genug Zeit und Geld dafür hat, wird im ausgesprochen umfangreichen Printmarkt fündig. Selbst bei nicht spezialisierten Onlinebuchhändlern finden sich momentan in der Sparte Esoterik über 13.000 Einträge, die sich um Seelenforschung, Spirituelle Medizin oder Jenseitsbotschaften drehen. Aber auch Themen wie Geld, Krisenbewältigung oder Mobbing werden auf esoterischer Ebene behandelt. Man muss nicht hellsehen können, um zu vermuten: Vor allem diese Titel könnten noch zu Bestsellern werden.
Gute schlechte Zeit
2009 soll laut einigen "Börsenastrologen" noch nicht das Ende der Krise sein. Laut dem österreichischen Finanzastrologen Gerald Peraus drohe gegen Ende des Jahres an den Börsen ein ähnliches Desaster wie schon 2008. Wer es noch genauer wissen möchte, kann auf den Internetseiten astrologischer Unternehmensberater nachsehen und sich dort die aktuellen Tagesvorhersagen für den DAX besorgen. Natürlich gilt auch für das Übernatürliche: "Alle Prognosen ohne Gewähr." Schlechte Aussichten also für die Weltwirtschaft und gute für die Esoteriker, die noch etwas länger von der Krise profitieren dürfen. Vielleicht hat ja wenigstens Erzengel Raphael eine tröstende Umarmung für alle notleidenden Banker und Konzernmanager übrig.
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