Eskalierte Abschiebung in Schwerin: Kurze Ruhe für afghanische Familie
Die Abschiebung zweier junger Afghanen setzt die Kieler Ausländerbehörde vorübergend aus. Zuvor war ein gescheiterter Versuch eskaliert.
Dieser hatte mit einem Einsatz von 40 Polizist:innen unter Beteiligung eines Spezialeinsatz-Kommandos geendet und damit, dass die Mutter der beiden, eine 47-jährige afghanische TV-Journalistin und Frauenrechtlerin, drohte, sich und ihre beiden jüngeren Kinder zu töten. Sie befindet sich nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie wieder bei ihrer Familie. Gegen sie wird wegen Bedrohung und Nötigung ermittelt.
Ihr ältester Sohn, ein 22-Jähriger, war ebenfalls zur Behandlung im Krankenhaus. Er hatte sich laut Polizei mit Glasscherben im Gesicht verletzt, als diese ihn mitnehmen wollte. Nach Angaben seines Anwalts nahm ihn die Polizei am Donnerstag nach der Entlassung aus der Klinik vorübergehend in Gewahrsam.
Zu der Familie gehört noch sein 18-jähriger Bruder, der ebenfalls abgeschoben werden sollte, sowie sein 49-jähriger Vater, ein 13-jähriges Mädchen und ein Zehnjähriger. Auf einem Video der Deutschen Presse-Agentur ist zu sehen, wie das jüngste Kind weinend und flehend von einem Polizisten aus dem Einfamilienhaus am Schweriner Stadtrand geschoben wird, in dem es seit einer Woche mit seiner Familie lebte.
Falschmeldungen in den Medien
Eine Helferin der Familie, eine britische Anwältin, hatte der taz von einem Telefonat mit den Kindern berichtet. Sie seien völlig verstört gewesen, die Mutter nicht mehr ansprechbar. In Medienberichten hatte es geheißen, die Familie habe sich in der Wohnung „verschanzt“, um die Abschiebung zu verhindern. Das ist falsch. Eine Polizeisprecherin sagte der taz, es habe die ganze Zeit Sichtkontakt zu der Familie bestanden.
Zunächst seien drei Polizeibeamte gegen halb sieben Uhr am Morgen mit dem Pastor der Gemeinde zur Wohnung gegangen und hätten im Inneren der Wohnung mit der Familie auf Englisch gesprochen, so die Sprecherin. Als die Mutter eine Stunde später drohte, sich und den jüngeren Kindern etwas anzutun, hätten sich die Polizist:innen zurück gezogen und Verstärkung angefordert. Die für solche Verhandlungen geschulten Polizist:innen hätten die Situation zunächst beruhigen können. Der „Zugriff“ um zwanzig vor elf sei erfolgt, nachdem das Geräusch von klirrendem Glas zu hören gewesen sei.
Die Nordkirche hatte der sechsköpfigen Familie Kirchenasyl angeboten, weil das Bundesamt für Migration keinen Härtefall anerkannt hatte. Es besteht auf der Abschiebung nach Spanien, weil es das europäische Land ist, in dem die Familie im April nach ihrer Flucht über den Iran zuerst angekommen war.
Allerdings hatte die Bundesregierung die Aufnahme der Familie zugesagt, weil sie aufgrund der exponierten Stellung der Mutter besonders gefährdet ist. Aus gesundheitlichen Gründen reiste die Familie nach Spanien. Das Land stellte schneller als Deutschland ein Visum aus. Zuletzt hatte sie in Kiel gelebt.
Nach wie vor ausreisepflichtig
Alle sechs sind nach wie vor ausreisepflichtig nach Spanien. Im Fall der Eltern und der beiden minderjährigen Kinder hatte der Anwalt Rechtsmittel eingelegt. Diese Verfahren sind noch nicht abgeschlossen.
Geflüchteten-Organisationen sowie Kirchenvertreter:innen haben das Vorgehen von Ausländerbehörde und Polizei kritisiert. „Mir größter Besorgnis“ habe er die versuchte Abschiebung zur Kenntnis genommen, sagte Stefan Heße, katholischer Erzbischof im Erzbistum Hamburg, der im Juni die Schweriner Gemeinde besucht hatte. „Das große Engagement für die Anliegen schutzsuchender Menschen in der Gemeinde hat mich sehr beeindruckt.“
Bevor eine Gemeinde Kirchenasyl gewähre, prüfe sie die Umstände sehr genau, sagte Heße. „Mit dem Kirchenasyl beanspruchen wir als Kirche kein Sonderrecht; vielmehr wissen wir uns rechtstaatlichen Prinzipien verpflichtet.“ Das Ziel sei, in Kooperation mit den staatlichen Stellen zu einer Überprüfung und Neubewertung des konkreten Einzelfalles zu kommen.
„Es ist erschreckend, dass im aktuellen Fall in Schwerin die staatlichen Stellen das Kirchenasyl zu brechen versuchten und die betroffene Familie der Gefahr einer erneuten Traumatisierung ausgesetzt haben“, sagte Heße.
Kritik am Auswärtigen Amt
Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche, zu der die Schweriner Gemeinde gehört, kritisierte zudem das Auswärtige Amt dafür, dass die Familie trotz Aufnahmezusage nicht rechtzeitig eine Einreiseerlaubnis bekommen hatte. „Es ist ein Armutszeugnis für die Behörden, dass die Visa-Formalitäten viel zu schleppend angesichts der Lebensgefahr für die Familie bearbeitet worden sind.“
Damit ist die Familie kein Einzelfall. Zwischen März und Ende Juni waren die Visaverfahren im Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan:innen aufgrund von Sicherheitsbedenken ausgesetzt worden. Die Familie im Schweriner Kirchenasyl floh im April 2023 vom Iran nach Spanien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis