Eskalation in Nahost: „Es zehrt an den Nerven“
Unsere Autorin wollte am Samstag von Israel zurück nach Deutschland fliegen. Nun sitzt sie nachts stundenlang in einem Schutzraum.

Am frühen Freitagmorgen greift Israel das iranische Atomprogramm und die militärische Befehlskette in einer gezielten Operation an, die viele als historisch bezeichnen. Wir werden gewarnt, dass der Iran Vergeltung üben wird. Jetzt warten wir jede Nacht auf weitere Raketen. Bislang kamen hunderte, nicht alle wurden abgefangen. Israel hat den Ausnahmezustand verhängt.
„Bleib in der Nähe und wenn du den Alarm hörst, kommst du sofort zurück“, sagt mein Freund, sobald ich nach meinen Laufschuhen greife. Wir sind jetzt seit einer Woche in Israel. Ich war aus beruflichen Gründen hier, mein Freund hat mich begleitet. Am Samstag sollten wir nach Berlin zurückfliegen, doch nun stellen wir uns auf einen wochenlangen Aufenthalt ein.
Mein Freund ist Israeli, und wir haben schon häufiger gemeinsam seine Familie besucht, der ich inzwischen auch sehr nahestehe. Ich habe mich hier immer sehr wohl und sicher gefühlt, in diesem wunderschönen Land. Raketenbeschuss, Alarmsirenen, nachts wach werden und losrennen, ungemütliche, sorgenvolle Nächte in den Schutzräumen des Kibbuz – all das kennen die Nichten meines Freundes spätestens seit dem 7. Oktober 2023 viel zu gut. Sie sind sieben und acht Jahre alt und leben damit. Für mich ist es das erste Mal.
Auch in den modernen Wohnhäusern sterben die Menschen
Wir sollen uns immer in der Nähe eines „Mamad“ aufhalten. So nennt man die Schutzräume in Israel, die in neuen Häusern in jeder Wohnung vorhanden sind. Wer in älteren Häusern lebt, muss oft in den Keller. Und wer im Kibbuz wohnt, rennt im Ernstfall zum nächsten Gemeinschaftsbunker. Die Warnung, sich bereitzuhalten, kommt vom israelischen Home Front Command und gilt seit Freitag so gut wie uneingeschränkt.
Wir übernachten alle bei der Mutter meines Freundes, denn sie hat den Luxus eines Schutzraumes in ihrem Apartment. Wenn wir zu siebt in ihrem begehbaren Kleiderschrank sitzen, wird es eng, aber wir haben ausreichend Wasser und Snacks. Die Schwester meines Freundes liest ihren Töchtern im Mamad die Gute-Nacht-Geschichte vor, damit sie direkt dort auf den ausgelegten Matratzen einschlafen. So müssen wir sie nachts nicht wecken, wenn der Alarm losgeht.
Doch während es in Hadera verhältnismäßig ruhig ist, sterben in Bat Yam, einem Vorort von Tel Aviv, in der Nacht von Samstag auf Sonntag mindestens sechs Menschen in ihren Wohnungen, als ihr Wohnblock direkt getroffen wird. Sieben Menschen werden noch in den Trümmern vermisst, 200 Verletzte wurden bereits lebend geborgen. In der Nacht zuvor war unter den aus den Trümmern Geretteten auch ein wenige Monate altes Baby – das Foto einer Polizistin, die den kleinen Körper in ihren Armen hält, geht durch die Medien.
Auch in Tamara, im Norden Israels, gibt es inzwischen vier Tote, nachdem ein Wohnviertel von iranischen Raketen getroffen wurde. Das zerstörte Wohnhaus in Bat Yam war modern, so wie unseres in Hadera, in dem wir uns eigentlich bislang sicher gefühlt haben. Ich habe eine Gänsehaut, als ich die Nachrichten morgens auf meinem Handy checke.
Verteidigung ist Teil des nationalen Selbstbilds
Obwohl wir als Familie gerade ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen und dankbar dafür sind, beieinander zu sein, fühlt es sich manchmal beengt an. Es gibt nicht genug Schlafplätze für alle und der Versuch, aus dem Home-Office zu arbeiten, konkurriert mit der schwindenden Geduld der Kinder. Unsere Zeit draußen beschränkt sich auf kurze Spaziergänge mit dem Hund und meine morgendlichen Laufrunden in der Nachbarschaft – mehr ist gerade nicht drin.
Meine Schwiegermutter steht fast ständig in der Küche, jedes Gericht noch liebevoller und aufwendiger als das vorherige. Vielleicht ist das ihre Art, mit der Nervosität umzugehen und sich etwas Raum inmitten unseres provisorischen Zusammenlebens zu schaffen. Denn im Grunde haben wir ihre Wohnung zur Festung erklärt und dabei ganz schön viel Platz eingenommen. Anders würde sie es sich nicht wünschen, aber es zehrt an den Nerven, das ist trotzdem spürbar. Am Shabbat kochte sie als kleine Hommage an ihre Herkunft auch persisch. Sie wurde im Iran geboren, bevor sie als Kleinkind mit ihrer jüdischen Familie nach Israel kam.
Ich werde ständig gefragt, wie es mir geht, weil ich solche Angriffe zum ersten Mal erlebe. Ich sage, dass ich mich relativ sicher fühle und frage zurück, wie die Israelis damit umgehen, dass ihr Leben jetzt wieder konstant von der Suche nach Schutz bestimmt ist? Eine Perspektive, die ich als pazifistische Deutsche gar nicht verstehen könne, höre ich besonders oft:
Seit der Kindheit wird in Israel ein starkes militärisches Selbstverständnis gefördert. Das Gefühl, sich verteidigen zu können und auch zu müssen, ist Teil des nationalen Selbstbilds. Der dreijährige Wehrdienst ist hier für alle Geschlechter verpflichtend. Doch auch wenn dieser „militärische Muskel“ seit frühester Kindheit trainiert wird, bleibt eine instinktive Angst, die sich in Ausnahmesituationen sofort bemerkbar macht, immer präsent. Die Stärke, auf die man sich verlässt, schützt nicht vor dem, was sich tief im Inneren regt, wenn Sirenen heulen und sich die Bedrohung plötzlich sehr real anfühlt.
Im Iran sind die Menschen auf sich alleine gestellt
Auch wenn wir in Israel früh gewarnt werden, auch wenn es für viele in wenigen Minuten erreichbare Schutzräume gibt, ist jede Nacht tödlicher als die letzte. In vielen arabischen und jüdischen Gemeinden fehlen Schutzmöglichkeiten. Auch mein Freund erzählt mir, dass Schutz suchen für ihn früher bedeutete, sich in den Türrahmen seiner Wohnung in Tel Aviv zu stellen und zu hoffen. Während ich noch in Ruhe meine Zähne putze und es mir dann in einer Ecke des Mamad gemütlich mache, wo die Kinder schon schlafen, haben Menschen in anderen Regionen nicht mal genug Zeit, die Tür zu schließen, bevor die Rakete einschlägt. Wir checken konstant die Nachrichten auf dem Handy und flüstern uns Updates zu, damit die Kinder nicht wach werden. In den frühen Morgenstunden gehen wir in unsere eigenen Betten. Den Eimer zum Pinkeln mussten wir zum Glück nicht benutzen.
Die israelische Regierung schützt ihre Bevölkerung, im Iran sind die Menschen auf sich alleine gestellt. Wir sitzen hier in Israel vielleicht eine Weile fest, aber ich bin gut versorgt und kann mich auf die Warnungen der Behörden meist verlassen. Die israelische Armee IDF (Israel Defense Forces) warnt auch iranische Zivilist:innen, sich von Waffenproduktionsstützpunkten fernzuhalten. Man kann wohl davon ausgehen, dass weitere Angriffe folgen werden. Die Angst und Unsicherheit der iranischen Bevölkerung mag ich mir kaum vorstellen.
Ich laufe weiter meine Runden in der Nachbarschaft und weiß, das wird ein Marathon, kein Sprint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Familienreservierungen bei der Bahn
Völlig überzogene Kritik
Eskalation in Nahost
Israel muss Irans Volk schonen
Israelische Angriffe auf den Iran
Bomben stürzen keine Diktatur
Veteranentag in Berlin
Danke für Euren Einsatz, Antifa Werkstatt
Angriff auf den Iran
Weil Israel es kann
Debatte um Wehrpflicht
Wehret der Pflicht