: „Es gibt keine Hierarchie des Leides“
Gaza, Sudan, Ukraine – die Gegenwart ist voller Gewalt. Aber wo ist die Schwelle zum Genozid? Und wer entscheidet das? Historiker Jürgen Zimmerer im Interview
Interview Frederik Eikmanns
taz: Herr Zimmerer, der Gaza-Krieg ist seit dem Herbst vorerst beendet. Ist die Frage jetzt überhaupt noch relevant, ob Israel dabei war, dort einen Genozid zu begehen?
Jürgen Zimmerer: Auf jeden Fall. Der Konflikt um Gaza ist ja noch nicht beendet, und was die israelischen Kriegsziele waren und sind, ist von erheblicher Bedeutung auch für die Einschätzung der Friedensmöglichkeiten. Auch hat Israel das Recht, dass der Genozidvorwurf geprüft und ausgeräumt wird, sollte er unzutreffend sein. Schließlich verjährt Genozid auch nicht. Die Weltgemeinschaft kann und muss deswegen auch nachträglich versuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Sowohl der Terrorangriff der Hamas als auch Israels Reaktion darauf haben sich tief ins kollektive Bewusstsein vieler Gesellschaften der Welt eingeschrieben. Wir werden uns noch lange mit Ursachen, Verlauf und Folgen beschäftigen müssen.
taz: Sie und viele andere Genozidforschende sind im Kern Historiker. Braucht es den zeitlichen Abstand zur Gewalt, um zu beurteilen, ob ein Genozid vorliegt?
Zimmerer: Grundsätzlich ist es möglich, einen laufenden Genozid als solchen zu identifizieren, das versuchen ja auch die Gerichte. In Ruanda 1994 etwa war, während die Verbrechen geschahen, bereits klar, dass es sich um einen Genozid handelt. In anderen Fällen ist die Beweislage schwieriger, lassen sich bestimmte Kriterien nicht ausreichend nachweisen. Zum Beispiel: Lässt sich die Gewalt eindeutig auf die Intention und den Befehl des Oberkommandos zurückführen? Es ist oft nicht einfach, zum Zeitpunkt des Geschehens an die nötigen Informationen zu kommen, vieles unterliegt der Geheimhaltung. Das sieht man auch bei der Bewertung von Israels Vorgehen in Gaza. Gleichzeitig kann man aber auch nicht sagen: Wir warten ab und in 40 Jahren kommen wir dann zu einem Fazit. Das wäre absurd.
taz: War es also ein Genozid, was da in Gaza vom israelischen Militär ausging?
Zimmerer: Man sollte diese Vorwürfe sehr ernst nehmen, auch wenn ich selbst in meinem Urteil zurückhaltend bin, da ich weder Arabisch oder Hebräisch spreche noch ein Experte für die Region bin. Aber es gibt Kolleg*innen, die diese Kompetenzen haben und die darauf hinweisen, dass ein Genozid vorliegen könnte. Weder darf man Israel vorschnell verurteilen noch darf man jede Untersuchung des Vorwurfs als antisemitisch abtun. Und letztendlich wird sich spätestens am Frieden zeigen, wie weitreichend die israelischen Kriegsziele waren. Wird es dann einen Frieden in Freiheit oder Gleichberechtigung für Palästinenser*innen wie für jüdische Israelis geben oder wird eine Gruppe vertrieben oder zerstört sein.
taz: Die International Associtation of Genocide Scholars IAGS hat Anfang September eine Resolution verabschiedet, wonach Israel eindeutig einen Genozid begangen habe.
Zimmerer: Das ist wichtiges Symbol, allerdings glaube ich nicht, dass sich so etwas per Mehrheitsbeschluss der Mitglieder entscheiden lässt, wie es die IAGS getan hat.
taz: Haben die Kritiker also recht, die der IAGS vorwerfen, bloß eine Gruppe antiisraelischer Aktivisten zu sein?
Zimmerer: Nein, auch wenn die IAGS schon immer Leute vertreten hat, die ihre Rolle eher in der aktiven Prävention von Genozid sahen als in dessen wissenschaftlicher Erforschung. Aber das bedeutet nicht, dass die IAGS per se eine israelkritische Schlagseite hat. Das mögen nicht alles promovierte Genozidforscher*innen sein, aber es sind Leute, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Deshalb sollte man diese Resolution ernst nehmen und nicht einfach vom Tisch wischen.
taz: Welche Kriterien müssten erfüllt sein, damit auch Sie von einem Genozid sprechen?
Zimmerer: Laut UN-Konvention liegt ein Genozid vor, wenn die Intention nachweisbar ist, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, und man beginnt, dieses Ziel auch umzusetzen. Das ist die völkerrechtliche Herangehensweise. Es gibt aber auch andere, die versuchen, die politischen Engführungen der UN-Konvention zu vermeiden, denn bestimmte Opferkategorien wurden nicht mit aufgenommen. Die Sowjetunion legte ihr Veto gegen Klasse als Opferkategorie ein, die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich wehrten sich derweil gegen politische Gruppen als Kategorie. Genozid ist eben nicht nur ein Völkerrechtstatbestand, sondern auch eine historische oder sozialwissenschaftliche Analysekategorie.
Wenigstens innerhalb der Sozialwissenschaften herrscht dann aber hoffentlich Einigkeit oder?
Manche Forscher sehen einen Genozid im Unterschied zum Krieg, andere beschreiben Genozid als möglichen Teil beziehungsweise als Radikalisierung eines Krieges. Teils wird als Kriterium gesehen, dass die Opfer verteidigungsunfähig sind, teils ist das ebenso irrelevant wie die Frage, ob sie Widerstand leisten.
taz: Wenn über Genozid gesprochen wird, denken viele Leute automatisch an den Holocaust. Ist das ein Problem?
Zimmerer: Viele denken: Wenn es ein Genozid ist, ist es wie der Holocaust und deshalb ist es besonders schlimm. Schlimmer zum Beispiel als ethnische Säuberungen. Aber es gibt hier keine Hierarchie des Leides oder der Gewalt. Auch meinen Holocaust und Genozid nicht das gleiche. Holocaust ist ein spezifisches historisches Ereignis, Genozid ist eine Kategorie von Ereignissen, die untereinander durchaus unterschiedliche Züge aufweisen können. Und das im öffentlichen Diskurs oftmals vorherrschende Verständnis vom Holocaust selbst ist ja auch nicht korrekt. Für viele ist der Holocaust einfach Auschwitz, also die Gaskammern von Birkenau, der industrielle Massenmord, „klinisch sauber“ durchgeführt von einigen wenigen Tätern.
taz: So wird der Holocaust auch in Schulbüchern oft noch dargestellt…
Das ist eine Entlastungsfiktion gerade für nichtjüdische Deutsche: Die Mehrzahl der Holocaust-Opfer starb nicht in den Gaskammern – wo der Tod übrigens auch nicht blutlos und steril war. Die meisten wurden von den Einsatzgruppen der SS und Polizei erschossen. Das waren nicht nur ein paar Schreibtischtäter und SS-Wachmänner, sondern zehntausende unserer Urgroßväter und Großväter, die sprichwörtlich knöcheltief im Blut standen.
taz: Verzerrt das auch die landläufige Vorstellung von Genoziden?
Zimmerer: Ja! Die Gleichsetzung etwa von Genozid mit Auschwitz führt dazu, dass man aus der Abwesenheit von Vernichtungslagern und dem ganzen bürokratischem Apparat, die Letztere unterstützte, auf die Abwesenheit von Genozid schließt. Neben den verschiedenen Formen des Mordens im Holocaust verliert man auch die Radikalisierungsprozesse, die Verbindung etwa mit dem Krieg, aus dem Auge. Auch rührt daher der Vorwurf, manche würden die israelische Kriegsführung mit dem Holocaust gleichsetzen. Dem ist aber nicht so.
taz: Inwiefern?
Genozid kann sehr unterschiedliche Formen annehmen: Der gemeinsame Nenner ist, dass man eine bestimmte Gruppe in einem bestimmten Gebiet zerstören, ihr physisches und auch kulturell-gesellschaftliches Leben zerstören beziehungsweise unmöglich machen will. Im Falle des Holocaust umfasste die Opfergruppe alle Jüdinnen und Juden, und zwar auf der ganzen Welt, in anderen Fällen war die Gruppe der Opfer kleiner oder territorial beschränkt. Auch muss nicht die Ermordung der Menschen im Vordergrund stehen, es kann auch deren kulturelle Zerstörung sein, so dass sie zwar überleben, aber als Gemeinschaft zerstört sind.
taz: Bisher haben wir vor allem über mögliche Verbrechen durch Israels Militär gesprochen. Was ist mit dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023?
Zimmerer: Ich denke schon, dass man hier von genozidaler Absicht sprechen kann. Die Zerstörung Israels, wie von zumindest einem Teil der Hamas propagiert, wäre zweifellos ein genozidaler Akt. Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob die Hamas zu irgendeinem Zeitpunkt die reelle Möglichkeit gehabt hätte, Israel zu vernichten. Aber dass sie Jüdinnen und Juden getötet oder vergewaltigt haben, weil sie Jüdinnen und Juden waren, ist evident.
taz: Ein anderes aktuelles Beispiel: die Gewalttaten im Sudan.
Zimmerer: Auch hier gilt, dass es zahlreiche Indizien dafür gibt, dass die massiven Kriegsverbrechen, die wir auf jeden Fall konstatieren können, Teil einer generellen Strategie der Vernichtung der gegnerischen Gruppe „als solcher“ sind. Spätestens seit den jugoslawischen Nachfolgekriegen in den 1990er Jahren ist zudem anerkannt, dass etwa Vergewaltigungen Teil einer genozidalen Strategie sein können. Zudem kommt im Fall des Sudan dazu, dass es dort eine längere Tradition ethnischer Säuberung, wenn nicht gar des Genozids gibt, die zumindest bis auf 2003 zurückgeht. Damals wurde bereits die Gewalt arabischer Milizen gegen afrikanische Bauern in Darfur unter dem Stichwort des Genozids diskutiert. Die heutigen Konfliktlinien ähneln den damaligen.
Jürgen Zimmerer
lehrt Globalgeschichte an der Universität Hamburg. Von 2005 bis 2017 amtierte er als Gründungspräsident des International Networks of Genocide Scholars (INoGS).
taz: Auch Russland wird wegen des Angriffs auf die Ukraine teils Genozid vorgeworfen. Wird der Begriff zunehmend zum politischen Instrument?
Zimmerer: Es ist nicht primär ein politisches, sondern ein juristisches oder analytisches Instrument. Es gibt auch im Falle Russlands Hinweise, die es nachvollziehbar machen, den Vorwurf des Genozids zu überprüfen. Dagegen verwahrt sich natürlich Russland. Aber dass wissenschaftliche Erkenntnisse durch politische Akteure gezielt affirmativ genutzt oder eben diskreditiert werden, ist nicht neu. Als etwa die russischen Verbrechen im Kijiwer Vorort Butscha 2022 als Genozid bezeichnet wurden, war die politische Reaktion in Deutschland eine ganz andere als heute, wo es um Israel geht.
taz: Der Bundestag hat ja auch die sowjetischen Verbrechen gegen die Ukrainer*innen in den 1920er Jahren als Genozid anerkannt…
Zimmerer: Das ist auch interessant, wenn man bedenkt, dass der Bundestag bis heute den Genozid des deutschen Kaiserreichs an den Herero und Nama Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so eingestuft hat. Es scheinen also nicht nur erinnerungspolitische Überlegungen eine Rolle zu spielen. Andererseits ist auch die Idee problematisch, das Parlament könne per Abstimmung sozusagen eine historische Wahrheit festlegen.
taz: Droht der Begriff Genozid in dieser Gemengelage seine Brauchbarkeit zu verlieren?
Zimmerer: Wofür die Opfer des Dritten Reiches gekämpft haben – nicht zuletzt jüdische Intellektuelle wie Raphael Lemkin –, ist, dass es spezifische Verbrechen gibt, die nicht nur auf den Sieg über den Gegner zielen, sondern auf dessen Zerstörung als Gesellschaft und in extremer Form auf dessen physische Auslöschung. Diese Erkenntnis darf nicht deshalb diskreditiert werden, weil manche den Begriff instrumentalisieren. Die Weltgesellschaft hat lange gebraucht, damit solche Gewalt genau benannt und die Verantwortlichen verfolgt werden. Das sollte man nun nicht leichtfertig aufgeben. Dass Genozid als ein Verbrechen besonderer moralischer Verwerflichkeit gilt, der Begriff eine besondere Signalwirkung hat, ist ja auch ein Erfolg der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ein Erfolg des „Nie Wieder“.
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