: „Es gibt ein ganzes System der Indoktrination“
Russland hat Tausende ukrainische Kinder in russische Familien gebracht, um sie zu putintreuen Bürger*innen zu erziehen. Die Anwältin Kateryna Rashevska ist auf die Fälle spezialisiert. Besteht Hoffnung für die Kinder?

Interview Jens Uthoff
taz: Frau Rashevska, die Ukraine hat Russland bei der Verhandlungsrunde in Istanbul eine Liste mit Namen von entführten Kindern übergeben und deren Rückkehr zu einer Bedingung erklärt. Wie sehen Sie diesen Vorstoß?
Kateryna Rashevska: Ich bin sehr dafür, dass die Rückkehr aller ukrainischen Kinder vor einem Waffenstillstandsabkommen und einem Friedensabkommen erfolgen sollte, denn Kinder sind keine Kriegsgefangenen oder zivile Häftlinge. Wir könnten so auch herausfinden, ob die Russen wirklich in der Lage sind, Abkommen einzuhalten. Leider ist derzeit nicht davon auszugehen, dass sie sich darauf einlassen.
taz: Die Ombudsstelle für Kinderrechte in der Ukraine hat knapp 20.000 Fälle von Kindesentführungen in die Russische Föderation dokumentiert, doch es dürften noch weit mehr sein. Wie werden die Kinder verschleppt?
Rashevska: Oft ist es so: Russische Eltern kommen in die besetzten Gebiete, wählen Kinder aus Internaten aus und adoptieren sie. Diese Internate hat Russland geschaffen, dort befinden sich Waisenkinder oder Kinder, die die Behörden aus den Familien genommen haben, mit der Begründung, dass sie dort schlecht behandelt wurden. Der letzte Fall einer solchen Verschleppung wurde von meiner Organisation im April 2025 dieses Jahres dokumentiert. Es geht also weiter mit den Deportationen. Rechtlich wird es an dieser Stelle kompliziert: Russland verletzt das humanitäre Völkerrecht nicht, wenn sie „schlechte“ Eltern ihrer Rechte beraubt.
taz: Lässt sich überhaupt prüfen, was genau passiert ist?
Rashevska: Nein. Wir haben keinen Zugang zu den besetzten Gebieten, um zu überprüfen, ob es zu Verschleppungen oder Misshandlungen gekommen ist oder ob Russland die Entziehung der elterlichen Rechte als Mittel eingesetzt hat, um Druck auf die Eltern auszuüben. Die Russische Föderation hat kein Recht, solche Kinder in russischen Familien unterzubringen. Russland wäre verpflichtet, sich mit der Ukraine, dem Herkunftsland des Kindes, in Verbindung zu setzen, um die Frage der weiteren Unterbringung des Kindes zu klären. Das passiert aber natürlich nicht immer.
taz: Wann begannen diese Verschleppungen?
Rashevska: Bereits mit der Annexion der Krim. Laut OSZE sind allein von dort seit 2014 über 1.000 Kinder nach Russland gebracht worden, nach Sibirien oder in den fernen Osten. Kaschiert wurden diese Transporte von Beginn an, indem man vorgab, Kindern zu helfen oder zu evakuieren. Ende 2014 fuhr medienwirksam der erste „Zug der Hoffnung“ von der Krim ab, zwölf ukrainische Kinder wurden nach Russland gebracht.
taz: Was hat Russland getan, um die Taten zu legitimieren?
Rashevska: Zum Beispiel legte die Russische Föderation für die Waisenkinder von der Krim fest, dass alle ukrainischen Waisenkinder zu russischen wurden. Und begann später, diese Gesetzgebung auf die anderen besetzten Gebiete auszuweiten. Wichtig zu wissen dabei: Eine umfangreiche Recherche hat unter anderem gezeigt, dass neun von zehn Waisenkindern aus den besetzen Gebieten keine „biologischen Waisen“ waren, sondern soziale Waisen. Sie haben also identifizierbare Eltern.
taz: Was macht Russland mit den Kindern?
Rashevska: Sie geben sie zum Beispiel in russische Familien mit Kinderwunsch. Die Pflegefamilien für Kinder von der Krim haben sie sehr gut ausgewählt, da kamen sie zum Beispiel in Familien, die eigene Kinder verloren hatten und sich sehnlichst neue Kinder wünschten. Das ist sehr ähnlich zu dem, was die Nazis zum Teil während des Zweiten Weltkriegs in osteuropäischen Ländern im Rahmen des „Lebensborn“-Programms gemacht haben. Sie raubten dort Kinder, um sie überzeugten Nationalsozialisten zur Adoption anzubieten. Auch sie haben die Kinder oft in Familien gegeben, die sie gut behandelten. Putin zwangsrussifiziert all diese Kinder, gibt ihnen die russische Staatsbürgerschaft, was die mögliche Rückkehr weiter erschwert.
taz: Was bekommen die Adoptiveltern vom Staat dafür?
Rashevska: Adoptiveltern bekommen einmalig und monatlich etwas Geld ausgezahlt. Putin vergibt aber den Status der „Mutterheldin“ heute auch an Adoptivmütter, die zehn Kinder und mehr aufziehen.
taz: Alles mit dem Ziel, dass die Kinder ideologisch geformt werden?
Rashevska: Ja. Putin will diese Kinder und Jugendlichen umerziehen und zu Feinden der Ukraine machen. Anfangs waren die Pflegeeltern oft Lehrer, aber mittlerweile sind es zunehmend Vertreter der russischen Armee oder andere Personen, von denen Loyalität gegenüber dem Staat erwartet wird. Putin will diese Kinder auch der Ukraine entreißen: Laut unseren Daten bilden Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren die größte Gruppe von Kindern, die nach 2022 in russische Familien gebracht wurden. Ich nehme an, dass Russland vielleicht gar nicht vorhat, alle diese Jungen nach Erreichen der Volljährigkeit in die russische Armee zu schicken, sondern dass sie vor allem der Ukraine diese Möglichkeit nehmen wollen.
taz: Die ukrainischen Behörden haben 19.564 Fälle von Kindesentführungen in den besetzten Gebieten registriert, von denen 1.345 Kinder – auch dank Organisationen wie Save Ukraine und der SOS-Kinderdörfer – zurückkehren können. Wie kommen die Zahlen zustande?
Rashevska: Sie stammen aus verschiedenen Quellen. In circa 3.000 Fällen haben die Eltern oder Großeltern sie den Angaben zufolge als vermisst gemeldet und dies bei der ukrainischen Polizei angezeigt. Dann gab es auch noch rund 4.000 Kinder, die Waisen waren oder ohne elterliche Fürsorge aufgewachsen sind. Die Einrichtungen, in denen sie waren, kamen unter russische Kontrolle, die Russen selbst meldeten, dass die Kinder fortgebracht wurden. Manchmal kennen Kinder, die zurückkehren konnten, auch andere Kinder in Russland, können sich an deren Namen und Nachnamen erinnern und dann wird ermittelt. Und es werden Informationen aus offenen Quellen genutzt, um Kinder zu identifizieren, zum Beispiel Fotos aus ukrainischen Registern oder andere Instrumente. Man kann davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl weit höher liegt.
taz: Sie sind Juristin beim Regional Center for Human Rights in Kyjiw. Was können Sie für die verschleppten Kinder tun?
Rashevska:Aktuell können wir nicht mehr machen, als Beweise zu sammeln. Wir haben keinen Zugang zum russischen Staatsgebiet und den besetzten Gebieten. Aber wir können nicht resignieren oder davon ausgehen, dass diese Kinder ohnehin nicht zurückkehren werden. Wir brauchen Beweise, damit wir Strafverfahren auf nationaler Ebene in der Ukraine eröffnen können und Fälle vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen können.
taz: Welche Beweise liegen Ihnen vor und wie sichern Sie diese?
Rashevska: Einige Beweisquellen können wir nicht offenlegen. Wir nutzen aber öffentlich zugängliche Informationen und verfügen über ein umfangreiches Netzwerk von Partnern – Journalisten, Aktivisten, Freiwillige und Cyberspezialisten –, die uns Daten weitergeben können, die die russische Seite zu verbergen versucht. Die Russen dokumentieren ihre Taten zum Teil auch selbst, wenn sie offen über die Verschleppung ukrainischer Kinder und deren Russifizierung sprechen. Alle öffentlich zugänglichen Beweise werden aufbewahrt. Ebenso werden alle anderen Informationen unverzüglich an nationale Ermittlungsbehörden und internationale Organisationen weitergeleitet.
taz: Der IstGH hat 2023 Haftbefehl gegen Wladimir Putin und die russische Präsidialkommissarin für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa, erlassen. Beiden werden „Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation der Bevölkerung“ vorgeworfen. Hat das etwas bewirkt?
Rashevska: Ja. Zum Beispiel gab es Kinder, die in den sogenannten Umerziehungslagern festgehalten wurden. Einige konnten zurückkehren. Die Russen haben zwar aktiv nichts dafür getan – sie stellten den Familien, die den Mut hatten in diese Lager auf der Krim oder in Russland zu reisen, um ihre Kinder zurück in die Ukraine zu holen, sogar zusätzliche Hindernisse in den Weg. Es gelang den Eltern trotzdem. Rechtlich sollten die Deportationen aber aufgrund des Ausmaßes auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden. Denn es handelt sich um koordinierte und staatlich gestützte Deportationen in vielen Tausend Fällen.
ist promovierte Völkerrechtlerin und arbeitet als Rechtsexpertin am Regional Center for Human Rights in Kyjiw. Rashevska hat an Dokumenten mitgewirkt, die dem Internationalen Strafgerichtshof übergeben worden sind und die den Strafbefehl gegen Wladimir Putin und Marija Lwowa-Belowa (sowie Alexander Lukaschenko) aufgrund der Verschleppungen ukrainischer Kinder ermöglicht haben.
taz: Welche Rolle spielt Marija Lwowa-Belowa?
Rashevska: Eine sehr aktive. Sie ist mehr als nur mitverantwortlich. Zeitweise hat sie selbst auch einen Jungen aus Mariupol bei sich aufgenommen und gefördert, sie instrumentalisiert die Kinder und setzt sie für Propaganda ein. Aber Putin ermöglicht natürlich die Praxis des Kinderraubs, bereits 2022 hat er den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft für ukrainische „Kinder ohne elterliche Fürsorge und geschäftsunfähige Personen“ vereinfacht. Dies macht die Deportationen möglich.
taz: Hat sich die Strategie in Bezug auf die Kinderentführungen im Laufe der Zeit verändert?
Rashevska: Neu ist, dass das Putinregime in den besetzten Gebieten inzwischen ein ganzes System der Indoktrination organisiert hat, das das gesamte formale Bildungssystem – Schulen, Kindergärten und Universitäten – einschließt. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, Kinder in Umerziehungslagern festzuhalten.
taz: Einige Kinder leben seit über zehn Jahren bei russischen Eltern. Wie realistisch ist es, dass sie zurückkehren?
Rashevska: Darüber muss die ukrainische Gesellschaft dringend sprechen. Wäre es in Ordnung, die Kinder, die 2014 deportiert wurden, zurückzuholen? Sie sind inzwischen integriert, sie sind aufgewachsen als Russ*innen. Es wäre wahrscheinlich gegen das Kindeswohl, sie zurückzuholen. Das ist ein sehr sensibles Thema. Die Antwort auf diese Frage liegt nicht nur im rechtlichen und moralischen Bereich, sondern auch im Bereich der nationalen Interessen und der Sicherheit der Ukraine. Wir können nicht einfach sagen, dass die Kinder den Russen überlassen werden sollten. Allerdings müssten wir uns eingestehen, dass ein Teil unserer entführten Kinder für immer in Russland bleiben wird.
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