: Erstickter Enthusiasmus
Am heutigen Samstag rufen Kulturinstitutionen europaweit die „Europäische Republik“ aus. Thomas Köcks Stück „Dritte Republik“ am Thalia-Theater aber dämpft die Begeisterung
Von Jens Fischer
Die Europäische Union (EU) ist tot – es lebe die Europäische Republik! Am heutigen Samstag um 16 Uhr wird sie europaweit symbolisch ausgerufen. 150 Kulturinstitutionen in 27 Ländern verkünden mit Flashmobs, Chorperformances, bei Kaffee und Kuchen und in theatralen Aktionen von Balkonen herab wie bei den Republikausrufungen 1918 ein Manifest. Das haben der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schweizer Theatermacher Milo Rau verfasst. Ein halbes Jahr vor der nächsten Europawahl wird ein postnationales Netzwerk der Regionen als europäische Utopie diskutiert.
Mit dabei sind die Stadttheater in Vorpommern – die AfD hat schon mal eine Gegendemo am Europaplatz in Greifswald angemeldet. Von den Kulturleuchttürmen im Norden machen sonst nur das Staatstheater Braunschweig und die Hamburger Häuser Schauspielhaus und Thalia-Theater mit. Letzteres führt mit einer Uraufführung in der Gaußstraße ins Thema ein: die „Dritte Republik“ von Thomas Köck.
Ventilatoren spielen mit Gardinen im Halbrund am Bühnenraum, Säulen sollen ihn als Abendland markieren. Nebel, Nebel und noch mehr Nebel erhebt sich als Vorhang, kommt später auch beim Stichwort „eisige Wand“ und „Grenze“ zum Einsatz. Mit Oma-Perücke und Hosenanzug ist Barbara Nüsse als verknöcherte Geodätin ausgestattet und vervollständigt das Rauch-Event, indem sie eine Zigarette anzündet. Dann hebt sie zur kafkaesken Erzählung ihrer Figur an.
Die irrt in einer „höchst zerfickten Drecksprovinz“ herum, sucht Außengrenzen – um sie neu zu vermessen. Während ein kauziger Kutscher ihr die Blindheit der Menschen nahebringt. Aber erst mal schmeißt Nüsse eine Gegenwindmaschine an, die den Nebel ins Publikum, dann hinfort weht. Klare Sicht.
Ein Verweis auf die dezente Neuorientierung des österreichischen Schöngeistes Köck. Nicht mehr das verfremdende Reden in dritter Person bestimmt die Assoziationsfluten. Das monologische Endzeit-Denken ist nun teilweise in dialogische Szenen gefügt und wirkt prägnanter als in den bisherigen Stücken. Zwischen den Kassandra-Rufern und Dystopie-Malern Europas will Köck das Grundübel, die Nationalstaaterei, klar benennen. Sie wird für die zu schwache, zu langsame, zu ineffiziente EU verantwortlich gemacht, die China, Russland und den USA nicht auf Augenhöhe gegenübertreten und dem Kontinent eine von den Märkten geraubte Souveränität nicht zurückgewinnen kann. Nicht der Populismus zerstöre die EU, so Guérot, „sondern die EU produziert den Populismus“.
Köck bezieht sich in seinem Text mit direkten Zitaten auf die Initiatoren des „Balcony Projects“. Ausgangspunkt: Die Landvermesserin erzählt von den Folgen des Ersten Weltkriegs, vom nationalen Wimmern in den Schützengräben. Wer sonst nichts habe, ergreife zum letzten Mittel, auf die Nation, der er gerade angehöre, stolz zu sein, heißt es bei Köck. Dabei bestehe Europa vor allem aus landschaftlich unterschiedlichen Regionen, die seien „Heimat, Nation ist Fiktion“, so hat es auch Menasse formuliert.
Mit einer den Gardinen sich entwindenden „blinden Fallschirmspringerin“ und einem wahnsinnig zuckenden „Patienten“ wird die Willkür von Aus- und Eingrenzungen thematisiert, die nicht Freiheit und Gleichheit garantieren, sondern stets neue Kriege evozieren würden. Grenzen seien als politische Nähte nie verheilende Narben. Ein Jugendchor Kriegsversehrter drängt derweil auf schnelle Grenzvermessung, „weil nicht jeder, der in der Welt unterwegs ist, kann automatisch zu uns kommen, es eilt, verstehen sie?“ Damit ist dann auch Migration abgehakt.
Pompös dann der Auftritt des Helden im Kampf des Umsteuerns. Die Gardinen fallen, wieder wallt Nebel, Musik dröhnt, der Chor vollführt Sportgymnastik: Herein wütet der Hamburger Stadtheilige Albert Ballin. Durch billige Menschentransporte nach New York reich geworden, managte Ballin die Hapag zur größten Reederei der Welt und erfand die Kreuzfahrt. Auf der Bühne lobt er die Auswanderer, weil sie „das Nationale transzendiert haben“, und erinnert als Weltenbürger an sein Ziel, „Grenzen durch Handel, Austausch, Ökonomie, Globalisierung aufzulösen“.
Ihm widerspricht der „Patient“: Menschen liebten „die Klarheit der Diktatur, die Reinheit, nichts fürchten sie so sehr wie die Ambivalenz“. Das sei „der ewige Traum der dritten Republik, der autoritäre vollverschlankte National Slim Fit State“, lässt Köck den Reeder erwidern – ein Verweis auf das Präsidialsystem, mit dem die urpopulistische österreichische FPÖ in den 1990er-Jahren den Politikmarkt aufgemischt hat. Zum Finale kehrt die Landvermesserin aus dem Albtraum europäischer Geschichte zurück. Mit einer Kehrmaschine zuckelt Nüsse über die Bühne, um den Müll und die Grenzziehungen vom Boden zu fegen. Nun ja.
Die Fronten sind klar, die Meinung des Autors wird deutlich, findet aber keine Unterstützung durch die szenische Aufarbeitung, die Köck und Elsa-Sophie Jach verantworten. Beide haben neben plump Atmosphäre hubernden Effekten nur einige verloren wirkende Elemente des absurden Theaters im Angebot. Nur dank der Schauspieler wird der Grenzen öffnende Diskurs ansatzweise lebendig. Für einen neuen EU-Enthusiasmus ist das viel zu wenig.
Feierliche Proklamation der „Europäischen Republik“: Sa, 10. 11., 16 Uhr, Schauspielhaus (Rangfoyer) und Thalia-Theater; Infos: europeanbalconyproject.eu
„Dritte Republik“: Fr/Sa, 16./17. 11., 20 Uhr, Thalia Gauß
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen