Erstes WM-Fazit: Menschen, Tore, Sensationen
Was bleibt von der WM, wenn sie am Sonntag endet? Das taz-WM-Team hat Stars gesehen, gechillte Schiedsrichter, präzis fliegende Bälle und reisefreudige Fans.
Die Jungstars
Der belgische Ballstreichler Eden Hazard ist zu bedauern. Er hätte es wohl verdient, die Finalteilnehmer sind aber einfach in der besseren Position. Wenn am Sonntag nach dem Endspiel der beste Spieler dieser WM gekürt wird, läuft es wohl auf den Franzosen Kylian Mbappé oder auf den Kroaten Luka Mordrić hinaus. Letzterer ist mit seinen 32 Jahren bei dieser Wahl vielleicht sogar im Vorteil, dem 19-jährigen Mbappé gehört schließlich sowieso die Zukunft.
Nicht nur Mbappés Sprintqualitäten sind unerreicht, der Spieler von Paris Saint-Germain ist ebenso gedankenschnell und ballsicher. Manchmal genügt gar eine fürs Ergebnis nicht relevante Aktion, um von sich reden zu machen.
So geschehen etwa bei seinem genialen Hackentrick im Halbfinale gegen Belgien, der selbst Mitspieler Giroud überraschte. Ein Tor brachte das nicht ein, im Bildergedächtnis dieser WM hängen geblieben ist es trotzdem.
Mbappé hängt mit seinen Auftritten auch seine Altersgenossen weit ab. Der energiegeladene Kroate Ante Rebić, 22, und der zweikampfstarke Rodrigo Bentancur, 21, aus Uruguay fielen in Russland ebenso positiv auf wie der kolumbianische Innenverteidiger Yerry Mina, 23, der in vier Spielen, drei Tore erzielte. Eine stolze Bilanz. Kylian Mbappé spielt im Vergleich zu all diesen Jungstars aber noch mal in einer anderen Liga. (jok)
Die Altstars
Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi? Die Frage aller Fragen im Weltfußball der letzten Jahre kann nach dieser Weltmeisterschaft neu beantwortet werden: Weder noch.
Es müssen nämlich neue Fragen gestellt werden. Endlich! Das binäre Denken hat ein Ende! Bei den enttäuschenden Argentiniern enttäuschte Messi besonders. Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro startete furios – allein gegen Spanien schoss er drei Tore, scheiterte aber ebenfalls schon im Achtelfinale mit Portugal an einem kaum überwindbaren uruguayischen Abwehrriegel sowie der ausgefuchsten Sonderbewachung durch José María Giménez und Diego Godín. Sie verteidigen sonst bei Atlético Madrid, dem Stadtrivalen von Real, wo CR7 bislang spielte. Vergebens wartete man also auf einen der genialen Momente Ronaldos.
Ach ja, und apropos Warten auf Geniales von Superstars: Ähnlich erging es bei dieser WM auch Neymar. Immerhin: Der 26-jährige Brasilianer wird für ausgiebiges Krümmen und die schauspielerischsten Schwalben in Erinnerung bleiben.
WM 2018: Und raus bist du!
Ihren Abschied aus der Nationalmannschaft haben Ronaldo (33) und Messi (31), die bei dieser WM stark an Unberechenbarkeit eingebüßt haben, indes noch nicht verkündet.
Sie suchen wohl noch nach einem genehmeren Anlass. CR7 will zumindest auf Vereinsebene noch einmal neu Schwung nehmen. Mit seinem Wechsel von Real zu Juventus Turin und dem Abschied vom altgewohnten, bequemen Umfeld nimmt er so eine Art letzte Verjüngungskur als Spieler vor. Für die nächste WM in Katar 2022 wird es dennoch kaum reichen. (jok)
Der Trainer
Als wäre er Schaffner und würde an der Schnur einer altertümlichen Eisenbahnglocke ziehen, so sah es aus, als Aliou Cissé das Siegtor seines Senegal gegen Polen bejubelte. Arm hoch, Arm runter, kerzengerade, konzentriert. Es war nicht nur diese Komposition von Freude und Stolz, es war der gesamte Auftritt des Senegal und seines Trainers, der fußballvolle Herzen während der WM erwärmte. Cissé selbst hatte den Seinen eingebläut, die Bälle nicht nur schmuck zu streicheln, sondern sie dann auch schnöde ins Tor zu schieben. Als einzige afrikanische Mannschaft gewannen sie so ihr Auftaktspiel, letztlich scheiterten sie nur in der Fair-Play-Wertung an Japan.
Cissé war nicht nur der jüngste Coach dieser WM. Er war der einzige Schwarze Trainer. Das wurde thematisiert, als sei nur eines von beiden möglich. Cissé aber gab zu verstehen, er sei so selbstverständlich Schwarz wie Trainer. Und er ist einer, der bleiben wird. Ein Barack Obama des Fußballs, keine Spur weniger kultiviert, kein bisschen weniger cool.
Cissé feierte mit seiner Mannschaft, als wäre er noch immer ihr Kapitän – wie damals im Viertelfinaljahr 2002, als es diese unglaublichen Momente gab. Es hätte sie auch in diesem Jahr geben können, geben müssen. Dann hätte Cissé schon jetzt beweisen können, was er, so viel sei versprochen, in naher Zukunft noch zu beweisen gedenkt: dass es afrikanische Trainer braucht, „um den afrikanischen Fußball groß zu machen“. (havo)
Die Schiedsrichter
Was hat es vor dieser WM Mutmaßungen über mögliche Schiedsrichter-Diskussionen gegeben. Wer hatte nicht alles gewarnt! Der Videobeweis! Die ganze neue Technik, mit der bestimmt keiner klarkommt! Nach jedem Spiel endlose Debatten!
Nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Der Videobeweis hat dafür gesorgt, dass Druck und Diskussion von den Schiedsrichtern weitgehend wichen. Sie mussten nicht mehr unfehlbar sein, sie konnten sich noch einmal eine Zeitlupe anschauen. Und die Leistungen der Unparteiischen waren, das muss man festhalten, weitgehend ausgezeichnet.
Das Finale pfeift jetzt der furchteinflößende Néstor Pitana mit seiner Stummfilm-Oscar-würdigen Gestik – beim Brasilien-Spiel in der Vorrunde unterband noch Björn Kuipers so wunderschön die Schauspieleinlagen von Neymar, dass manch einer den Niederländer gern im Finale gesehen hätte. Nur der deutsche Schiedsrichter Felix Brych musste früh nach Hause fahren, angeblich weil die Fifa sauer war wegen „ständiger Extrawünsche der DFB-Delegation“, so wurde es kolportiert. Alles Lüge, findet Reinhard Grindel. (asc)
Die Spielorte
Es hätte nicht besser laufen können für Kasan. Die Stadt an der Wolga ist eingegangen in die Fußballgeschichte. Der Bau der Arena, die bereits 2013 eröffnet wurde, hat sich jetzt erst richtig gelohnt. Die WM-Städte Wolgograd, Samara, Saransk und Jekaterinburg sind schon jetzt fast vergessen. Kasan wird unvergesslich bleiben.
Deutschland, Argentinien, Brasilien – drei Dinosaurier des Fußballs haben in der Arena der Stadt ihr WM-Leben gelassen. In diesen drei großen Fußballnationen gibt es ein neues Synonym für Scheitern, Schande und Schmach. Es heißt Kasan. Viel mehr wird von der Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern vielleicht nicht in Erinnerung bleiben. Nicht der Ruf des Muezzins in diesem multikulturellen Ort, nicht der Gesang aus den orthodoxen Kirchen, nicht die Romantik am Ufer der Wolga, nicht der Klang der tatarischen Sprache – und nicht der offensichtliche Wohlstand im rohstoffreichen Tatarstan.
Kasan ist die Schicksalsstadt dieses Turniers. Und wird doch immer ein Rätsel bleiben. Was weiß man schon über Córdoba, die Stadt der deutschen Schmach bei der Argentinien-WM 1978? Eben. (arue)
Die Laterne
Es ist die Laterne dieser WM, draußen vor dem großen Stadion in Sotschi. Der Bundestrainer hat mit ihr posiert. Als Zeugnis der Eitelkeit des deutschen Fußballs sollte sie deshalb am besten im DFB-Museum in Dortmund einen festen Platz bekommen.
Sollte Fußballdeutschland bei diesem Bild wirklich glauben, hier an der Strandpromenade von Sotschi mache sich der Bundestrainer gerade Gedanken über den Matchplan für das nächste Spiel? Wer das glaubte, der fand auch all diese sinnlosen Slogans rund um die Nationalmannschaft („Best Never Rest“), diese scheinwitzigen Hashtags (#zsmmn) und das Etablieren der Handelsmarke „Die Mannschaft“ superduper.
Darüber wird er oder sie vielleicht vergessen haben, dass es bei einer WM eigentlich ums Fußballspielen geht, und dass man nicht automatisch wieder Weltmeister wird, weil man es vor vier Jahren schon mal geworden ist. Löw hat mit seinem Poserauftritt sich selbst zur Handelsmarke gemacht. Er mag als „Der Trainer“ für „Die Mannschaft“ die Idealbesetzung gewesen sein. Für das Achtelfinale dieser WM hat das aber, wie alle gesehen haben, nicht gereicht. (arue)
Die Latino-Fans
Eine Zugreise allein unter Argentiniern in Russland zwischen Moskau und Nischni Nowgorod mit spanischen Durchsagen? Bei dieser Weltmeisterschaft waren erstaunliche Dinge möglich. Mehr als 54.000 WM-Tickets wurden in dem südamerikanischen Land verkauft. Dabei liegen 13.467 Kilometer zwischen Buenos Aires und Moskau.
Ähnliche Entfernungen sind es nach Kolumbien und Brasilien, aber hier war die Nachfrage mit 65.000 respektive 72.000 Tickets sogar noch größer.
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WM 2018 – Die Spielorte
Die europäischen Halbfinalisten konnten da bei ihrer „Heim“-WM allesamt nicht mithalten. Im St. Petersburger Krestowski-Stadion wurde deshalb beim Viertelfinale der belgische Block von den Brasilianern verstärkt. Na gut: Das eine Land hat 11, das andere 207 Millionen Einwohner. Ein peruanischer Fan hat angeblich sogar 25 Kilogramm zugenommen, um an Tickets zu kommen. Der Grund: Es gab nur noch Karten für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Nun ja: Peru nahm zum ersten Mal seit 36 Jahren an einer WM teil.
Auch was die Euphorie betrifft, hatten die Latinos die Nase vorn. Am Roten Platz wurden Samba-Trommeln geschlagen und Tango getanzt. Vielen im Gastgeberland hat das gut gefallen. Einige der Südamerikaner haben sich jedoch schon vor dem sportlichen Abschied disqualifiziert. Ihr Gefallen an den russischen Frauen missfiel einigen russischen Männern. Besitzstandsreflexe wurden hervorgerufen. Das missfiel wiederum den russischen Frauen. (jok)
Die Viererkette
Säuberlich aufgereiht stehen sie da, die Abstände minutiös austariert, und sobald der Ball sich bewegt, tun sie es auch, im genau richtigen Abstand, als verbünde sie ein unsichtbares Band: die beiden schwedischen Viererketten. Die Blicke der Spieler gehen nach links, nach rechts, sie versichern sich, ob sie am richtigen Platz sind, in der richtigen Position, um den anderen bestmöglich zu helfen.
Sie waren ein Manifest des Kollektivs, und entsprechend lobte Trainer Janne Andersson auch die Loyalität, die seine Mannschaft auszeichnete und sie – für viele dann doch überraschend – bis ins Viertelfinale führte.
Diese Loyalität stand sinnbildlich für einen der großen Trends in diesem Jahr: Es war eine WM, vielleicht die erste, in der auch die „kleinen“, fußballerisch weniger beschlagenen Mannschaften in taktischer Hinsicht nicht abfielen, sondern sich mit „högschder Disziplin“ (badischer O-Ton Jogi Löw) kunstvoll geschult zusammen in einem System über den Platz bewegten. Eine der wenigen Ausnahmen bei diesem Taktikfestival: die deutsche Mannschaft, ausgerechnet, die nie zu ihrem Plan fand. Mit bekanntem Ausgang. (fv)
Der Lothar
Erst machen Mesut Özil und Ilkay Gündogan ein Foto, das sie für privat halten, mit Recep Tayyip Erdoğan. Es folgen wochenlange Polemiken. Ganz vorne mit dabei: Lothar Matthäus in seiner Bild-Kolumne. Das Foto nennt er unglücklich und fordert, Özil müsse sich jetzt Gedanken machen: „Ich habe bei Özil auf dem Platz oft das Gefühl, dass er sich nicht wohlfühlt im DFB-Trikot.“ Bäm. Ganz zufällig findet dann auch Oliver Bierhoff, man hätte vielleicht „aus sportlichen Gründen“ besser auf Özil verzichtet.
Einige gedankenlose Tage später trifft Matthäus bei einem Empfang Wladimir Putin und macht ein PR-Foto mit ihm. Man müsse halt miteinander sprechen und nicht einander boykottieren, schreibt er. Bild-Heiopei Julian Reichelt schreibt daraufhin einen empörten Artikel: Wenn Matthäus Putins blutige Hände schüttele, mache er sich zum „Entschuldiger einer Mordmaschine“ und trete den „Sport, der ihm alles geschenkt hat“ mit Füßen. Auch bäm.
Als Antwort postet Matthäus auf Twitter statt eines Gedankens ein Bild, wie Bild-Vize Nikolaus Blome Putin bei einem Treffen die Hand schüttelt. Dafür wird er ausgiebig gefeiert: schlagfertig sei das, originell, witzig, super PR-Gag. Willkommen im Land der Zyniker. (fv)
Der Ball
Mindestens 35 Fernschusstore prophezeite Spaniens Ersatztorhüter Pepe Reina für diese WM. Das war im März, als der neue Ball Telstar 18 zum ersten Mal getestet wurde. Das Spielgerät sei unmöglich einzuschätzen, monierte er, „die Torhüter werden eine Menge Probleme haben“. Teamkollege David de Gea und auch Marc-André ter Stegen pflichteten ihm bei: Merkwürdig sei das Ding, außerdem sehr glitschig, weil es mit einer Plastikschutzschicht überzogen sei. Zudem fliegt es sehr viel stabiler als seine Vorgänger, insbesondere als das Exemplar von 2010. Dieses Ei namens Jabulani hatte zu einigen Nervenzusammenbrüchen bei Keepern und Distanzschützen geführt, weil er flatterte wie eine angeschossene Ente.
Reinas Prophezeiung erwies sich dennoch als tendenziell übertrieben: 25 Tore aus der Distanz sind es bisher, wenn man Tscheryschews Eigentor gegen Uruguay mitzählt. Nichtsdestotrotz scheint sich der Telstar gut kontrollieren zu lassen: Die vielen Tore nach Standards sind dafür ein beredtes Beispiel. Fast die Hälfte aller Tore fielen nach ruhenden Bällen. Neben Telstar 18 ist natürlich auch ein gerüttelt Maß an Training dafür verantwortlich.
Die Torhüter beklagten sich jedenfalls nicht. Es gab nur zwei gravierende Torwartfehler, die zu Treffern führten: Uruguays Muslera im Viertelfinale gegen Frankreich und de Gea, dem beim ersten Spiel gegen Portugal ein Ball durchrutschte. Nach einem Distanzschuss. (fv)
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