Erster ESC nach Corona-Zwangspause: Die Antithese zum Krisengemurmel
Der ESC war schon immer zuerst Entertainment und Spaß. Auch in Rotterdam spiegelten die Künstler*innen divers und respektvoll das moderne Europa wider.
D er 65. Eurovision Song Contest, Samstag bis in die Nacht zum Sonntag aus Rotterdam übertragen, brachte einige Erkenntnisse. Etwa eine über die durch die Coronapandemie vermuteten Gefühle von Einkehr und Besinnung ob des durch die Lockdowns verlangsamten Alltags. Nichts von dieser Kulturkritik geht offenbar in Erfüllung, gefeiert wurden beim Eurovision-Festival wie alle Jahre Akte der Lebenslust, der Party, der Gemeinsamkeit, und zwar eine in Diversity und Respekt.
150 Millionen in 47 europäischen Ländern sowie Israel und Australien schauten live zu. Hätte es, wie sonst auch immer in Deutschland, öffentliche ESC-Partys geben können – sie wären gefeiert worden, zumal, aber nicht nur dort in queeren Communities. Die Künstler*innen des ESC in Rotterdam bildeten zusammen so etwas wie ein Bild des modernen Europa (plus Israel und Australien):
Nicht mehr besonders vermerkt werden muss, dass das eine oder andere Land nichtweiße Künstler*innen auf die Bühne delegiert – wie etwa 1966, als mit Milly Scott für die Niederlande die erste Sängerin mit nichtheller Hautfarbe, postkoloniale Einwanderin aus Surinam, zum ESC kam.
In Rotterdam war geschätzt knapp die Hälfte der Singenden in irgendeiner Weise „divers“ – People of Colour etwa, so wie der Schwede Tusse, als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus dem Kongo nach Schweden gekommen und dort nun eine Ikone, besonders bei den Jüngeren. Alles normal geworden, es ist kein exotisches Ding mehr.
Ästhetisch gewann mit „Måneskin“ eine italienische Drei-Mann-und-eine-Frau-Band, die unschlageresker nicht sein könnte, anders als die finnischen Heavy Metalists von Lordi 2007 aber ohne ironische Allüre. „Zitti e buoni“ war die aggressiv anmutende Erklärung dieser Musiker, dass es in dieser Welt nicht darauf ankomme, lieb und brav zu sein, sondern, im Gegenteil, aufrührerisch, laut und vernehmlich. „Rock ‚n‘ Roll never dies“ erklärte Sänger Damiano David danach lakonisch, übersetzt in etwa: Der Aufstand endet nie!
Italien bekam seine pfingstliche Ausschüttung des heilig europäischen Geistes über sich – und Premier Mario Draghi soll sich sehr gefreut haben. Für Deutschland war es einmal mehr eine künstlerische und (weil es beim ESC ja durch die Punkte auch immer um Punkte geht) sportliche Vollhavarie.
Jendriks intersektional angelegte Antidiskrihymne im Fröhlichkeitsrausch „I Don’t Feel Hate“ soff ab – das eurovisionäre Europa mochte im deutschen Act offenbar nur vormoderne Biederkeit erkennen: Gut gemeint – aber ohne Kraft und Belang. Der Künstler, ausgesucht vom NDR und der ARD, mag sein Talent haben. Deutscher Muff wurde in den Begleitshows vor und nach dem ESC in der ARD dokumentiert:
Sarah Connor, Jan Delay und all die anderen, die da etwas zu promoten hatten – sie erwiesen sich nach der Flut von exzellenten ESC-Peformances als belanglos und spaßbefreit, sich selbst genügend. Der ESC aus Rotterdam war vor allem dies: Eine Antithese zu allem Krisengemurmel in Brüssel, Europa lebt, einmal im Jahr an einem Samstag im Mai, nächstes Mal in Mailand oder Rom.
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