Ersatzfreiheitsstrafe in Berlin: Mehr Knast für arme Menschen
In Berlin sitzen immer mehr Menschen Ersatzfreiheitsstrafen ab. Die Initiative Freiheitsfonds beklagt Unverhältnismäßigkeit und fürchtet steigende Zahlen.
Und die Tendenz ist steigend. Im gesamten Jahr 2022 mussten 2.390 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. In den beiden Vorjahren waren es coronabedingt weit weniger, da die Vollstreckung ausgesetzt war.
Ein häufig zugrundeliegendes Delikt ist das Fahren ohne Fahrschein, im Strafgesetzbuch unter Paragraf 265a als „Erschleichen von Leistungen“ geregelt. Von Januar bis Juni 2023 mussten deswegen 317 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Im Jahr 2022 waren es noch 414.
Arne Semsrott, von der Initiative Freiheitsfonds, die bislang 838 Menschen aus Gefängnissen freigekauft hat, davon ein Viertel in Berlin, prophezeit auch weiter zunehmende Ersatzfreiheitsstrafen: „Wirtschaftskrise und Inflation bedeuten, dass sich die Situation für viele Menschen perspektivisch verschlechtert. Dann wird es auch mehr Leute geben, die ihre Strafen nicht zahlen können und im Gefängnis landen.“
Steigende Zahlen befürchtet
Aus einer Erhebung der JVA Hakenfelde geht hervor, dass ohnehin besonders Menschen von der Regelung betroffen sind, die eigentlich unterstützungsbedürftig wären. Bis zu 85 Prozent der Ersatzinhaftierten sind arbeitslos, etwa 38 Prozent wohnungslos, dazu seien fast alle verschuldet und viele hätten Sucht- und psychische Erkrankungen.
Semsrott beklagt, dass die verhängten Tagessätze gerade für armutsbetroffene Menschen unverhältnismäßig hoch angesetzt seien. „Eine übliche Strafe für das wiederholte Fahren ohne Fahrschein sind 30 Tagessätze à 15 Euro, also insgesamt 450 Euro. Menschen mit Bürger*innengeld oder ohne Einkommen können das nicht bezahlen“, sagt er.
Eine Reduzierung der Mindesttagessätze auf 5 Euro, wie es die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers im Januar Staatsanwält*innen und Anwält*innen empfahl, sei deshalb auf Landesebene ein guter Vorstoß, so Semsrott. Aus einer Recherche des Neuen Deutschlands ging jedoch erst im Juli hervor, dass dieser Mindestsatz in der Berliner Justiz bisher nur selten Anwendung findet.
Aus Semsrotts Sicht müsse neben der konsequenteren Anwendung die Höhe des Mindestsatzes weiter reduziert werden, um Verhältnismäßigkeit herzustellen. „Das Existenzminimum muss beachtet werden. Bei zu hohen Tagessätzen wird das schnell überschritten. Bei wirklich kleinen Einkommen sollte man deshalb auf 1 Euro runtergehen“, sagt er. Eigentlich fordert er die Entkriminalisierung, also die Abschaffung des Paragrafen 265a. Eine Alternative wäre vergünstigter oder kostenloser ÖPNV.
Im Juni hatte der Bundestag beschlossen, die Berechnungsregelung anzupassen. Während bisher für 60 Tagessätze auch 60 Tage Freiheitsentzug verhängt wurden, sind es von nun an noch 30, also die Hälfte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz