Eröffnung der Frankfurter Buchmesse: Wachrüttelnde Worte
Die Frankfurter Buchmesse eröffnet mit Reden zur Verteidigung der Demokratie. Norwegen ist das richtige Gastland zur richtigen Zeit.
![Ein grauhaariger Mann im Anzug Ein grauhaariger Mann im Anzug](https://taz.de/picture/3738697/14/23985905.jpeg)
Es blieb am Dienstagabend der norwegischen Journalistin und Schriftstellerin Erika Fatland vorbehalten, die einprägsamsten Worte dafür zu finden, welche Bedeutung die Literatur in ihrem Heimatland für viele Menschen hat. Die Osloer Autorin, in Norwegen mehrfach ausgezeichnet, erzählte von ihrer verirrten und einsamen Teenagerzeit, als ihre „Jugendrevolte darin […] bestand, dass ich die obligatorische sonntägliche Wanderung mit der Familie schwänzte, um Hamsun zu lesen“. Ihr Vater hingegen habe nie gelesen, er lese bis heute nicht, „und damit entgeht ihm die allerwichtigste Erfindung der Menschheit überhaupt“. Denn Literatur, so Fatland, habe die „Sprengkraft“, Menschen, Leben und Politiken zu ändern.
Norwegen ist der diesjährige Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, und so haltungsstark, selbstbewusst und eigenwillig, wie sich das Land bei der Eröffnungsfeier präsentierte, dürfte es das richtige Gastland zur richtigen Zeit sein. Die Redner_innen, ob Ministerpräsidentin Erna Solberg oder Schriftsteller Karl-Ove Knausgård, sprachen über ihre tiefe Prägung durch die Literatur und die Sprache: „Ich habe immer gelesen, um von anderen etwas zu erfahren“, sagte Solberg. Literatur diene dazu, jenes Andere zu verstehen: „James Baldwins Beschreibungen, wie es war, ein schwarzer schwuler Mann während der Zeit der Bürgerrechtsbewegung zu sein, begleiten mich zum Beispiel bis heute.“
Starautor Knausgård verwies dagegen auf eine andere Qualität des geschriebenen Worts: „Eines der wichtigsten Merkmale der Literatur ist ihre Langsamkeit“, sagte er. Sein Vortrag war ein Ritt durch die (Literatur-)Geschichte und ein kulturhistorischer Streifzug durch das innovationsfreudige Deutschland vergangener Jahrhunderte.
Knausgård sprach über Don Quichotte und Johann Georg Faust, über Gutenberg und den Buchdruck, über Karl Benz und den ersten Autobau im Jahr 1885. Um von dort aus nahtlos zum CO2-Output von heute zu kommen: „Karl Benz […] ahnte nicht, dass in Zukunft jährlich eine Million zweihundertfünfzigtausend Menschen bei Verkehrsunfällen umkommen würden. Ebenso wenig wusste er, dass der CO2-Ausstoß dazu führen würde, dass die Erde sich erwärmen, das Eis schmelzen und das Wasser ansteigen würde, dass Waldbrände wüten, Wüsten sich ausbreiten und Tierarten aussterben würden.“
Gemeinsam das Schlechte tun
Die Dialektik des technischen Fortschritt erklärte er mit dem Philosophen Michel Serres: „Dieses Phänomen, dass die gut gemeinte Tat des einen in ein unkontrollierbares Übel umschlägt, sobald aus dem einen viele werden, nennt der französische Philosoph Michel Serres die Erbsünde. Das Teuflische daran ist, selbst wenn wir jeder für sich das Gute wollen, tun wir gemeinsam das Schlechte.“ Da war Knausgård sehr nah an der klimapolitischen Doppelmoral der Gegenwart.
Mit Norwegen ist auch jenes Land Ehrengast, das dreimal hintereinander auf Platz 1 der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen stand und das beim Demokratieindex des Economist ebenfalls seit Jahren oben steht, während Deutschland von den Champions-League-Rängen aktuell weit entfernt ist und auf Rang 13 vor sich hin dümpelt.
Der unermüdlich engagierte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, erinnerte daran, dass auch unser Grundgesetz, gerade 70 geworden, nur eine Vereinbarung auf Papier ist. Und er gemahnte an den inhaftierten saudischen Blogger Raif Badawi, dessen Fall mehr und mehr in Vergessenheit gerät, genauso wie an die Opposition in Hongkong (für sie und für den in China inhaftierten Autor, Verleger und Buchhändler Gui Minhai sollen am Donnerstag Solidaritätsregenschirme aufgespannt werden).
„Erschütterung allein reicht nicht mehr“
Wachrütteln sollten die Reden bei der Eröffnungsfeier der Buchmesse zuletzt allzu oft – aber sollte sie es jemals mehr als 2019? Den Ton dafür setzte schon zu Beginn Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, der den Anschlag von Halle sofort in seinen ersten Worten aufgriff: „Seit ein paar Tagen wird in Deutschland gefordert, jüdische Einrichtungen besser zu schützen. Ich schäme mich dafür, dass so etwas wieder gesagt werden muss. Stattdessen sollten wir alles dafür tun, damit jüdische Einrichtungen nie wieder von irgendjemandem beschützt werden müssen.“ Außenminister Heiko Maas fügte hinzu: „Erschütterung allein reicht nicht mehr. Unser ‚Nie wieder‘ klingt nach jeder neuen Tat hohler.“
Es waren zwei durch und durch politische Stunden, die die Buchmesse 2019 einläuteten. Die norwegische Kronprinzessin Mette-Marit, so etwas wie der gute Geist der Buchmesse, verlas dabei nicht nur Olav H. Hauges Gedicht „Der Traum in uns“ (dem das Motto des Gastlandauftritts entliehen ist), sondern schwang am Ende auch den Hammer, um die fünf Messetage offiziell zu eröffnen.
Die Eröffnung war zudem ein Plädoyer für eine offene politische Streitkultur, wie nicht nur ein Dissens auf offener Bühne zwischen Erika Fatland und Ministerpräsidentin Erna Solberg über Kunstfreiheit in Norwegen zeigte (Letztere hatte eine Ibsen-Theaterproduktion kritisiert).
Eine Debatte, die wohl die Buchmesse beherrschen wird, ist die über den Literaturnobelpreis für Peter Handke – im Übrigen hat da auch Norwegen ja mit dem eingangs erwähnten Knut Hamsun, der 1920 die Auszeichnung erhielt und später ein glühender Nazi-Verehrer war, seine Erfahrungen gemacht. Und vielleicht ist es ja der Fall Peter Handke und dessen Werk seit den Neunzigern, das einen daran erinnern kann, dass „die“ Literatur keineswegs immer nur der Verständigung dient und dass die „Sprengkraft“, die Fatland ansprach, sich in ihrer Wirkung ganz schnell ins Gegenteil verkehren kann.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Ukraine-Verhandlungen in Saudi-Arabien
Wege und Irrwege aus München
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?