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■ Ernst Jünger soll nun per Briefmarke geehrt werdenDas Lob der Widersprüchlichkeit

Da rede noch jemand von Reformstau und der Trägheit staatlicher Institutionen. Die Texthalden der Zeitungsredaktionen zu Leben und Werk Ernst Jüngers sind noch nicht weggedruckt, die Blumen auf seinem Grab in Wilflingen noch frisch, da geht er bereits in Serie. Nein, nicht in Film oder Fernsehen, sondern als Briefmarke, zum Wert von 1,10 DM.

Finanzminister Waigel hat es eilig mit der postalischen Huldigung des Dichters, als wolle er einer zähen und am Ende wohl fruchtlosen Debatte um die Legitimität staatlichen Gedenkens an einen wie Jünger, der nie ein überzeugter Demokrat war, zuvorkommen. Begründungen finden sich. „Bewundert, aber auch umstritten, verkörpert die ungeheure Vielfalt seines Werks die Größe und Widersprüchlichkeit unseres Jahrhunderts“, sagt Waigel. Das Ministerwort objektiviert den Geehrten. Es geht gar nicht um Jünger. Das Werk ist der Star, und ein bißchen sind's sogar wir: unser Jahrhundert, dessen Größe zu rühmen man sich hierzulande in den letzten 50 Jahren aus gutem Grund verkniffen hat.

Das Lob der Widersprüchlichkeit gehört indes seit kurzem zum Repertoire staatlicher Huldigungen. So belobigte Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Feierlichkeiten für den Dichter Heine die „ätzende Gesellschaftskritik“ und rügte jüngst das Parlament der frühen Jahre dafür, daß es den gesamtdeutschen Brecht nicht in die Arme zu schließen vermochte. Die Lektion ist gelernt. Das Dichtergedenken gibt's gratis und schützt vor lästiger Auseinandersetzung. Der Widersprüchliche ruhe in Frieden. Marke drauf und ab.

Die Jünger-Marke taugt freilich nicht zum Skandal. Nichts über diese seltsame Biographie aus Rationalität und Rausch, aus Stil und Männerphantasie, das nicht schon zum 100. gesagt worden ist. Vielleicht steht sie am Ende ja tatsächlich für die Größe einer Demokratie, die einen zu ehren versteht, obwohl der Geehrte ihr immer mißtraut hat.

Waigels schneller Griff zur Marke und das prompte Ausloben eines Graphikwettbewerbes ist ein weiteres Beispiel für die nervöse Beschleunigung der Gedenktechniken in diesen Tagen. Öffentliches Erinnern hat offenbar wenig Zeit. So wird man den Verdacht nicht los, daß die politische Klasse durch die anhaltende Diskussion um das Holocaust-Mahnmal für die ermordeten Juden Europas hin und her gerissen ist zwischen hastigem Entschluß und phlegmatischem Aufschieben. Briefmarken sind leichter als Steinblöcke. Harry Nutt

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