Erinnnerung der Ostkultur: Ganz groß in Japan
Marko Martin legt mit „Die verdrängte Zeit“ ein überaus kenntnisreiches und unterhaltsames Buch über die Kultur der DDR vor. Ohne Nostalgie und Frust.
Anonym senden zwei Jungen eine Postkarte an Radio 3 Bayern. Ihr Wunsch ist nicht ungewöhnlich, sie wollen nur eins: Alphaville hören. Big in Japan. Ganz big, damals. Gezeichnet ist die Postkarte mit „Die zwei aus Sachsen“, und tatsächlich wird der Bayern 3 Moderator den Song für die zwei aus Sachsen ankündigen.
Sachsen ist damals Teil der DDR, das macht den Wunsch so heikel. Und einer der beiden Jungen heißt Marko Martin. Der hat jetzt ein Buch vorgelegt über die Kultur des Ostens, über all das, was seit den Jahren der Wiedervereinigung aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde – über das auch, was vielleicht nie Teil des kulturellen Gedächtnisses werden konnte.
„Die verdrängte Zeit“ heißt es, und unter all den Texten, die sich auch in diesem Jahr anlässlich der Einheitsfeierlichkeiten auf Zeitungsseiten und in den Buchkatalogen drängen, ist dieser die vielleicht größte Bereicherung der Debatte, weil er den Blick zurück ohne Bitterkeit wagt.
Kultur, so eine Erkenntnis des Buches, wurde mit enormer Bedeutung aufgeladen – nicht zum Zwecke „bourgeoiser“ Selbstvergewisserung, sondern als mögliche Protestnische gegen das System. „Später, nach dem Ende der DDR, würde Musik nie wieder diese Bedeutung haben – und nie wieder derart befrachtet sein.“ So wird auch ein Radiowunsch zur kleinen Revolte.
Martin liefert einen kenntnisreichen Parforceritt durch alle Kompartimente der Kultur des Ostens, durch Literatur, bildende Kunst und die Welt des Films, durch Hoch- und Popkulturelles, Staatstragendes und Nischenproduktion. Noch einmal einen unvoreingenommenen Blick auf die kulturelle Produktion der DDR zu werfen, auf jene Kulturleistungen, die nicht wegen, sondern trotz des Parteiregimes und seiner „strangulierende(n) Wirkung“ entstanden, das ist sein Ziel.
Marko Martin: „Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“. Klett Cotta 2020, 426 Seiten, 24 Euro
Entscheidend sind dabei Modus und Tonfall des Textes: Nicht als (n)ostalgisches Schwelgen in DDR-Kultur kommt dieser Text daher, geht es doch in vielen Fällen gerade darum, das in Erinnerung zu rufen, was auch in der DDR kaum kulturelle Wirkung entfalten konnte, eben weil Texte, Filme oder Musik verboten wurden. Auch ist der Text keine bittere Anklage an den ignoranten Westen, wobei Martin natürlich analysiert, warum diese so beispielhafte Verdrängung von Kulturleistung nach 1989 eigentlich möglich war.
Keine Schuldzuweisungen
„Ideologisierte Abwehr, Ressentiments, Unkenntnis“ sei dafür verantwortlich, nicht struktureller Natur, aber doch als vorhandene „Unterströmung“ spürbar. Indiz für die immerhin wahrnehmbare Ignoranz sei die Rede von der „Blackbox DDR“. Zugleich lehnt Martin „Schuldzuweisungen und DDR-nostalgische Selbstexkulpierungen“ ab.
Beispielhaft: die Diskussion um DDR-Kunst in Form des deutsch-deutschen Bilderstreits. Hätten staatstragende Künstler wie Willi Sitte und Werner Tübke nicht auch nach 1989 reüssieren können? Unangepasste wie Cornelia Schleime oder Roger Loewig dagegen seien bis heute wenig bekannt. Auch im Osten, muss man hinzufügen.
Martin übrigens schreibt hinreißend spitz. Gallig der Kommentar zu Willi Sittes „Liebespaar im Badezimmer“, das aussehe, „als hätte Arno Breker beim Malen zu viel Rotkäppchensekt gekippt“.
Ein bisschen sexistisch
Schön erzählt ist das Beispiel einer gemütlichen Privatrunde, in der – mehr oder weniger kenntnisreich – über ostdeutsche Literatur vor 1989 gesprochen wird. Die Figur des „spitzelnden Wortejongleurs“ Hermann Kant wird zu „Hermann Cunt“, „worauf einer der nach 1990 Geborenen sagt, den Arm sanft um seine Freundin gelegt: ‚Sorry, aber das ist jetzt doch ein bisschen sexistisch.‘“
Bei all dem hintergründigen Witz möchte man beinahe, beinahe aber nur!, darüber hinwegsehen, dass der Text einige kapitale (Tipp-)Fehler enthält, die dem Lektorat entgingen. Maler Hubertus Giebe wird zu „Hubert“ Giebe; Günter de Bruyn wird zu „der Bruyn“ vertippt. Egal, man liest mit Gewinn!
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