Erinnerungskultur in der Ukraine: Folgen für die Geschichtspolitik
Angriff auf die Kultur: Wie der Krieg in der Ukraine das Gedenken an den Nationalsozialismus beeinflusst, stand im Fokus einer Podiumsdiskussion.
Dass Russlands Angriffskrieg nicht nur militärische Ziele in den Blick nimmt, wurde schnell nach Beginn der Offensive vor fast einem Jahr offenbar. Wohn- und Krankenhäuser, aber auch Museen, Theater und Denkmäler gerieten unter Beschuss. Ende letzten Jahres bestätigte die Unesco die Beschädigung von Kulturstätten an über 200 Standorten.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die vergangenen Sommer in die Ukraine reiste, spricht von einem systematischen Angriff auf die ukrainische Kultur. In Cherson seien 13.000 Gemälde verschwunden, sagt die Grünen-Politikerin am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum Berlin, das die Folgen des Kriegs für die Geschichtspolitik in den Mittelpunkt stellt.
Doch wie Anatolii Podolskyi, Direktor des Ukrainian Center for Holocaust Studies in Kyjiw, live zugeschaltet berichtet, seien nicht nur Kulturgüter betroffen. Gezielt hätten russische Truppen Schulbücher zerstört, die über die NS-Verbrechen in der Ukraine aufklärten.
Podolskyi beklagt, dass insbesondere junge Russ:innen jahrelang Propaganda ausgesetzt seien, die die historische Rolle der Ukraine verdrehe: „In Russland ist eine ganze Generation erwachsen geworden, die denkt, die Ukraine habe kein Recht darauf, als eigener Staat zu existieren.“
Holocaustgedenken seit 30 Jahren
Doch auch die Erinnerungskultur in der Sowjetunion habe Gebiete außerhalb Russlands größtenteils ausgespart. Das Gedenken an den Holocaust sei in der Ukraine erst seit 30 Jahren wirklich präsent, sagt Podolskyi. Denkmäler und Museen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überall in der Ukraine entstanden und die Verbrechen im Land dokumentieren, das im Zweiten Weltkrieg ein Viertel seiner Bevölkerung verlor, seien heute Ziel russischer Kriegsaktionen.
Das passe zum Narrativ der russischen Geschichtsschreibung, die etwa die Rote Armee, als ausschließlich russisch darstelle. Dass das nicht der Wahrheit entspricht, lässt sich in Berlin heute noch anschaulich nachprüfen. Besucher des Reichstagsgebäudes seien immer wieder überrascht, unter den Inschriften, die Soldaten der Roten Armee 1945 im Gebäude hinterließen, auch ukrainische und belarussische Schriftzüge zu finden, berichtet Claudia Roth.
In dem Kontext betont sie die Wichtigkeit gesamteuropäischen Erinnerns und verweist auf das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“. Das befindet sich zwar noch in der Konzeptionsphase, soll aber einmal auch die weniger präsenten Einsatzorte des Naziregimes berücksichtigen, wie Griechenland, Belarus oder eben die Ukraine, die vor dem Krieg ein „blinder Fleck auf unserer Landkarte“ gewesen sei, wie Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), sagt, die die Podiumsdiskussion moderiert.
Gefährliches Halbwissen beklagt auch Floriane Azoulay. Die Direktorin der Arolsen Archives zieht eine Studie heran, die gestiegene Zustimmungswerte zu russischer Propaganda belegt. Demnach glauben etwa 27 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands, 16 Prozent im Westen, Putin gehe „gegen eine globale Elite vor, die im Hintergrund die Fäden zieht“.
Desinformation auf Social Media
Sorgen macht Azoulay jedoch vor allem, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene den auf Social Media-Plattformen wie TikTok kursierenden russischen Desinformationskampagnen Glauben schenken. Die Politikwissenschaftlerin und Soziologin plädiert dafür, auf diesen Plattformen schnell gegenzusteuern, mit treffsicheren Inhalten, die auch mal vereinfachend sein müssten, Jugendliche aufzuklären. Gute Kampagnen erforderten allerdings viel Geld, gibt sie sogleich zu bedenken.
In Azoulays Wirkungsstätte, den Arolsen Archives, lagern unter anderem auch 1,4 Millionen Akten von Soldaten und Zwangsarbeiter:innen aus der Ukraine, sagt sie. Viele weitere Millionen befinden sich jedoch in der Ukraine und seien aktuell davon bedroht, im Krieg zerstört zu werden.
Dass die Sicherstellung dieser auch für die ukrainische erinnerungspolitische Bildung wichtig sei, betont Anatolii Podolskyi. Nicht nur die russische Seite sei anfällig für sprachpolitische Vereinfachungen. Auch in ukrainischen Medien höre man immer häufiger Vergleiche zwischen diesem Krieg und den von Nazideutschland begangenen Verbrechen. Wörter wie „Gauleiter“ fielen inzwischen regelmäßig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen