Eric Bonse über die Anschläge in Brüssel: Ganz Europa ist Hinterland
Sind alle Marokkaner verdächtig? Sind die unfähigen belgischen Behörden schuld? Ist Belgien am Ende ein einziges Terrornest? Nach den Attacken auf Brüssel werden auch in Deutschland diese Fragen gestellt – und bejaht. Dabei greifen die Vorurteile und Klischees zu kurz.
Richtig ist, dass die Attentate von Paris in Brüssel geplant und vorbereitet wurden. Richtig ist wohl auch, dass die Angriffe auf Paris und Brüssel eng zusammenhängen. Wenn sich bestätigen sollte, dass die gesuchten Bakraoui-Brüder zu den Selbstmordattentätern von Brüssel zählen, gäbe es sogar eine direkte Verbindung.
Weniger direkt ist allerdings die Verbindung in das Brüsseler Problemviertel Molenbeek, das als „Hort des Terrors“ abgestempelt wird. Zwar wurde dort Salah Abdeslam gefasst, einer der Hauptverdächtigen von Paris. Aber die Spur der mutmaßlichen Terroristen findet sich auch in zwei weiteren Brüsseler Stadtteilen. Forest und Schaerbeek, die betroffenen Gemeinden, sind nicht so leicht als marokkanische Ghettos abzutun wie Molenbeek. Zwar gehören auch sie – genau wie Molenbeek – zum „armen Halbmond“ im Westen von Brüssel. Dies ist eine Art Krisengürtel, der sich sichelförmig am Brüsseler Stadtkanal erstreckt und das Zentrum umschließt.
Schon seit 30 Jahren leiden diese Viertel unter dem Niedergang der Industrie und unter einer Armutseinwanderung aus islamischen Staaten. Doch es gibt auch das schicke Schaerbeek und das hippe Forest. In beiden Stadtteilen gibt es gutbürgerliche Quartiere, die nicht von Marokkanern und anderen Einwanderern, sondern von „Europäern“ aus den 28 EU-Ländern bewohnt werden.
Die belgischen Behörden haben Fehler gemacht. Monatelang gelang es ihnen nicht, Abdeslam zu stellen, obwohl der nach den Mordanschlägen von Paris nach Brüssel geflüchtet war – und dort wohl auch bis zuletzt blieb. Als sie ihn am Freitag vergangener Woche endlich festnahmen, haben sie nachlässig reagiert.
Denn nach dem spektakulären Fahndungserfolg hätten die Sicherheitsmaßnahmen in ganz Brüssel sofort erhöht werden müssen. Schließlich drohte Abdeslam kaum verhohlen mit neuen Attacken – und zwar in der EU-Kapitale. Dass die Abflughalle am Flughafen Zaventem für jedermann zugänglich war, ohne Kontrolle, war ein Fehler. Doch machen wir uns nichts vor: An deutschen Flughäfen sieht es mit der Sicherheit auch nicht viel besser aus.
Die deutschen Behörden tappen genauso im Dunkeln wie die belgischen. Sie wissen offenbar nicht einmal, was Abdeslam in Ulm getrieben hat, wo er Anfang Oktober, vor den Pariser Attentaten, gesichtet wurde. Dabei war er mit einem Komplizen unterwegs, der nun ebenfalls in Brüssel gestellt wurde. Diese Terrorzelle hat Deutschland offenbar als sicheren „Ruheraum“ genutzt – Belgien wurde nicht oder nicht rechtzeitig gewarnt. Doch was wäre gewesen, wenn Abdeslam und seinesgleichen den Flughafen in Köln oder Düsseldorf attackiert hätten?
Dies ist keine rhetorische Frage. Auch wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière das Gegenteil behauptet: Die Spuren der Attentate von Paris und Brüssel weisen auch nach Deutschland. Auch in Deutschland gibt es genügend Problemviertel und Billighotels, in denen die Terroristen sich unerkannt verstecken können. Statt mit dem Finger auf Belgien zu zeigen, sollten die deutschen Behörden lieber die eigenen Leute im Auge behalten. Und sie sollten ihre Erkenntnisse, so sie denn welche haben, mit Belgien und Frankreich austauschen. Das ist bisher offenbar nicht geschehen.
Doch selbst ein perfekter Informationsaustausch, wie ihn sogar die Grünen fordern, würde die Terrorgefahr nicht bannen. Der IS hat sich nach Erkenntnissen von Europol nicht nur in Brüssel eingenistet, sondern regelrechte Terrorlager in anderen EU-Staaten und auf dem Balkan errichtet. Von dort sollen auch die Kommandos kommen.
Wenn das stimmt, dann hat sich ganz Europa zum Hinterland für die Terroristen entwickelt. Die IS-Kämpfer wären nicht mehr auf Syrien angewiesen, wo die meisten Attentäter von Paris und Brüssel „ausgebildet“ wurden. Sie könnten überall ihre Morde planen – und ausführen.
Dies ist eine beunruhigende Erkenntnis. Bisher deutet nichts darauf hin, dass sie schon überall verstanden wurde. Mit dem Finger auf das Brüsseler „Terrornest“ zu zeigen, mag aus deutscher Sicht beruhigend wirken. Doch es geht an der wahren Gefahr vorbei.
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