Erfahrungsprotokoll: „Im Grunde eine sehr reiche Zeit“

Die Bildhauerin Dorothea Buck kennt Psychosen aus eigener Erfahrung. Damit sie für Außenstehende ihre Bedrohlichkeit verlieren, schildert sie ihr eigenes Erleben.

Hat ihre Psychose in eine produktive Erfahrung verwandelt: die Hamburger Bildhauerin und Lehrerin Dorothea Buck. Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Ich war am 2. März 1936 gerade bei der Wäsche, es war frühmorgens und mich überfielen drei Sätze, die mich so erschreckten, dass ich laut aufheulte und ich fühlte mich wie zu Boden gedrückt. Es war nicht so, dass ich Stimmen hörte, es war eine Gewissheit. Ich stürzte zu meinen Eltern, die total erschrocken waren. Natürlich, eine Psychose bricht nicht aus heiterem Himmel auf, es waren fünf Wochen einer Lebenskrise vorausgegangen, von der sie aber nichts bemerkt hatten.

Der erste Satz war, dass ein ungeheuerlicher Krieg kommen würde, der zweite war, dass ich Braut Christi sei, der dritte Satz war, dass ich einmal etwas zu sagen haben würde, die Worte dazu von selbst kommen würden. Und nun die Braut Christi: Ich habe mich fünf Wochen lang um einen Zugang zu Jesus bemüht, es war mir zu schwierig, einen Gott zu haben und dazu noch einen Jesus. Ich fand auch, Jesus hatte wenig vom Humor seines Vaters und ich fand es auch nicht in Ordnung, dass er am Ende der Welt die Menschen, die schließlich seine Brüder und Schwestern waren, richten und sogar in die Hölle werfen wollte. Und nun sollte der mein Bräutigam werden – das wollte ich gar nicht so gerne.

Ich sagte mir: Wie Jesus sich mit mir langweilen würde, wenn ich ihm nachzueifern versuchte. Ich hatte den Schluss gezogen, dass ich nur meine eigene Natur entwickeln sollte. Und das war wiederum eine Befreiung. Ich wollte ja Kindergärtnerin werden und machte damals das praktische Jahr, das dazu erforderlich war, zu Hause.

Meine Mutter sagte nun als Reaktion, ich sollte nun von ganzem Herzen die Hausarbeit tun. Aber das war ein schlechter Rat, wenn das Kind so erschüttert ist. Da hätten meine Eltern erst einmal fragen müssen: Was ist denn vorausgegangen? Mein Vater als Pfarrer wälzte gleich die Konkordanz, in der die biblischen Symbole erklärt sind, die Braut Christi war da die Gemeinschaft der Heiligen. Er wollte mich widerlegen, dass nicht ich als Einzelperson gemeint sein könnte, sondern die Gemeinschaft der Heiligen. Dann habe ich mich erst einmal ins Bett gelegt, weil ich so erschöpft war, und überlegte, was ich als Braut Christi mal tun könnte. Jesus hatte ja weniger den Spaß im Kopf als die Freude und ich dachte, ich übernehme die Kinder als zukünftige Kindergärtnerin und er die Erwachsenen.

Genügend durchgespielt

Es ist immer wichtig, dass man mit so einer aufgebrochenen Vorstellung spielt, wenn man es genügend durchgespielt hat, dann hat die Vorstellung nicht mehr einen solchen Reiz. Ich habe diese Erfahrung lange nicht als Psychose verstanden, gerade wegen dieses Überwältigt-Seins konnte ich mir nicht vorstellen, dass es aus mir selber kam. Das ist typisch für die Schizophrenie: es ist ein ganz anderes Erleben und deshalb bewerten wir es nicht als von uns selbst kommend, sondern als von außen, von Gott oder anderen Mächten eingegeben. Und dadurch hat es viel mehr Glaubwürdigkeit. Wenn wir es von vorneherein als von uns, aus dem eigenen Unbewussten aufgebrochen, erkennen würden, wären wir ja viel kritischer, dann würden wir das alles mehr hinterfragen. So nehmen wir es so folgsam hin.

Ich erlebte dann, dass die Impulse aufbrachen, gerade die Schizophrenie lebt ja von diesen Impulsen. Ich konnte plötzlich besser kochen, vorher hatte ich immer ins Kochbuch gucken müssen und nun überließ ich einfach meinen Händen, was sie an Zutaten griffen und es schmeckte besser als sonst. Ich habe diese Impulse als positiv gewertet und nahm mir vor, nur noch nach ihnen zu handeln. Das ist der Unterschied zu vielen anderen Schizophrenen, die große Angst haben, die Kontrolle zu verlieren. Im Unbewussten sind die Emotionen drin, das Künstlerische, das sind ja immer Impulse und Eingebungen.

Ich habe fünf Psychosen gehabt in der Zeitspanne von 1936 bis 1959. Auf der einen Seite bleibt es immer gleich, dieser Aufbruch des Unbewussten – das habe ich aber auch erst in meinem letzten Schub erkannt. Das Wesentliche ist eigentlich das veränderte Welterleben, man spürt überall Sinnzusammenhänge, ohne sie näher benennen zu können. Gäbe es das nicht, würde man diese Erfahrungen wahrscheinlich nach dem Aufwachen wie einen Traum bewerten.

Wenn ein Patient später Beziehungs- und Bedeutungsideen äußert, sagen unsere Psychiater sofort: Das ist eine Schizophrenie. Aber er fragt nicht, aus welchem Grunde das so ist. Ich habe die völlig gesprächslose Psychiatrie erlebt und bei den Biologisten gibt es sie immer noch, sie sehen das Ganze ja nur als Hirnstoffwechselstörung und lassen sich gar nicht erzählen, was der Patient erlebt und wie es ausgebrochen ist.

Es wird keine Psychose ausbrechen ohne eine vorausgegangene Lebenskrise, ebenso wie bei den Körperkrankheiten, die ja eigentlich Heilungsversuche sind, ist es auch bei der Psychose. Nur wird das nicht verstanden, häufig von den Betroffenen selbst nicht, ich war auch total ratlos damals.

Die Psychose aus mir selbst kommend zu erkennen, ist mir erst bei meinem fünften und letzten Schub deutlich geworden. Da teilte ich das Zimmer mit einer anderen Patientin, die aus einem nächtlichen Traum mit einer schweren Psychose aufwachte und eine andere Sprache sprach. Sie betonte die zweite Silbe, statt wie im Deutschen die erste, und die Sprache klang wie Französisch, ohne es der Wortbildung nach zu sein. Nun wusste ich von ihr, dass sie aus einer Hugenottenfamilie stammte. Sie war Hauptschülerin, die Eltern waren Hauptschüler, sie hatte nie Französisch gelernt. Ich schloss daraus, dass sich dieser französische Sprachrhythmus in ihrem Unbewussten niedergeschlagen und dann in ihrer Psychose aufgebrochen war. Und daran wurde mir klar, dass die Psychose aus uns selber kommt.

Ich sagte mir: durch das Aufbrechen dieser Kraft, dieses Instinktive stauen sich die Gefühle nicht – ich will aus diesen inneren Impulsen leben. Das tun die meisten nicht, sie leben aus dem Verstand heraus. Im Grunde ist es eine sehr reiche Zeit und es ist nichts verkehrter als die Psychiater, die die Patienten erst reduzieren durch ihre Neuroleptika. Sie werden stillgelegt.

Symbol-Ebene verstehen

Für einige ist die Erfahrung einer Psychose durchaus beängstigend, das Erleben ist dadurch gekennzeichnet, dass sie davon überwältigt werden, sie können sich nicht dagegen wehren – und wenn man die Symbol-Ebene nicht versteht, ist es erschreckend.

Meine Eltern sahen es als nur krank, es hieß von den Fachleuten, man darf mit den Betroffenen nicht über ihr Erleben sprechen, weil es dann wieder aufbrechen würde – das ist natürlich verkehrt. Nun haben meine Eltern die ganzen Jahre nie mit mir darüber gesprochen, was ich unverständlich fand. Sie kannten mich doch nun, als meine Psychose aufbrach, seit 19 Jahren, nun gaben sie die Verantwortung an die Psychiater in Bethel ab, wo ich in einem dreiviertel Jahr kein einziges ärztliches Gespräch erlebt habe. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers hat das seelendumm genannt und das kann man wohl sagen, diese Art Ärzte sind Seelendummköpfe. Es sind so wichtige und unvergessliche Erfahrungen, es wäre wichtig, man spräche darüber, um sie sich selbst erklären zu können. Aber die Beteiligung der Ärzte an den Patienten-Morden unter den Nazis zeigt ja, wie wenig sie sich in ihre Patienten hineinversetzt haben.

Mit den Neuroleptika hat man nur eine Symptom-Verdrängung, keine Heilung. In der Ex-In-Ausbildung werden diese Menschen mit Schizophrenie-, Borderline oder Depressionserfahrung als Erfahrungsschatz gesehen. Sie glauben gar nicht, wie diese Menschen, die an der Ex-In-Ausbildung teilnehmen, aufblühen. Immer wurden sie nur als defizitär und unheilbar krank gesehen, wenn sie die Medikamente nicht bis an ihr Lebensende nehmen. Ihnen wurde gesagt, dass sie ihr Studium besser abbrechen sollen, weil sie es doch nicht schaffen. Die Psychiater verursachen das aber durch ihre abwertende, nur defizitäre Sichtweise selbst. Man ist zutiefst verunsichert und das bereitet den Boden für neue Schübe, wenn die Psychose als Erleichterung erlebt wird – und ich habe sie jedes Mal als Erleichterung erlebt.

Eine Schizophrenie ist für einen Normalen nicht zu verstehen, er erlebt die veränderte Welterfahrung nicht, es ist ihm völlig entglitten. Früher war das anders, im Mittelalter war das religiöse Erleben sehr verbreitet, im alten Griechentum wurden die sogenannten Verrückten als den Göttern besonders nahestehend verehrt. Bei uns ist jedoch die Norm der Maßstab.

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