Erfahrung bei Berlin-Wahl: In die Tonne gekloppt
Die Wiederholungswahl in Berlin hat zur aller Überraschung funktioniert. Das Ergebnis spiegelt die Stimmung. Ein Bericht aus Kreuzberg.
Es ist 17.07 Uhr als ich am Sonntag mein Wahllokal in der Kreuzberger Fichtelgebirge-Grundschule betrete. Während die Wahlhelferinnen meinen Personalausweis checken, sage ich: „Nicht viel los heut.“ Eine Wahlhelferin antwortet: „War schon viel los. Sie sind halt jetzt in der goldenen Stunde.“ Aha. Ich trau mich nicht noch eine Bemerkung zu machen, denke aber: Für was genau ist das jetzt ein Argument?
Auf dem Weg zur Wahlkabine muss ich über schwarzes, knisterndes Papier laufen, mit dem der Boden beklebt wurde. Bei jedem Schritt denke ich, ich hab meine drei Wahlzettelverloren, weil es unter mir raschelt. Offenbar wollte man den Schulboden vor Abnutzung schützen. Man wollte halt diese Mal wirklich alles richtig machen. Den Wahlbeobachter des Europarates scheint das gefallen zu haben.
Als ich mit meinen angekreuzten Wahlzetteln aus der Wahlkabine laufe, werde ich von einem Wahlhelfer in Richtung einer riesigen Plastikmülltonne gebeten. Hier soll ich meine Zettel „bitte einzeln“ reinschmeißen.
Geschichte der Wahlen
Hätte man bei der ersten Wahlwiederholung in der Geschichte der Wahlen in Deutschland nicht auf so symbolische Dinge wie Mülltonnen verzichten können? Auf meine Bemerkung, dass das ja nicht grade vertrauenserweckend und seriös wirke, sagt eine Wahlhelferin: „Aber wir sind seriös!“
Die Tonne darf ich nicht fotografieren, aber vor dem Eingang der Schule steht das gleiche Exemplar. Das Ergebnis der Wiederholungswahl spiegelt die Stimmung in dieser Stadt: Keine Ahnung, wen ich wählen soll. Die kannste doch alle in die Tonne kloppen.
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