Erdgasförderung in Groningen: Es bleibt ein Zittern
Die Erdgasförderung in Groningen wird nach langen Protesten gegen diese Fördertechnik gestoppt. Doch das Problem hat sich damit nicht erledigt.
Ausgedacht hat sich die Fahne Mark van Esveld. Im Dorf Beerta, 40 Kilometer östlich der Stadt Groningen, nahe der deutschen Grenze gelegen, betreibt er das Restaurant „Smederij 1872“. „Das Gebäude steht unter Denkmalschutz und ist auch gehörig beschädigt“, so van Esveld zur taz. Das ist kein Einzelfall, denn zwischen Sommer 2012 und Ende Januar 2019 gab es weit mehr als 97.000 Schadensmeldungen in der Region. Fällt im Rest der Niederlande der Name Groningen, denken die Menschen ans Wattenmeer, die 400 Jahre alte Rijksuniversiteit, an Arjen Robben – und vor allem an Erdbeben.
Begonnen haben die Beben in den 1990er Jahren. Ab 2003 nahm ihre Frequenz zu. Der Grund: das Groninger Gasfeld, mit einer Kapazität von ursprünglich rund 2.800 Milliarden Kubikmetern eines der 20 größten der Welt. Seit 1963 fördert die niederländische Erdöl-Gesellschaft NAM, ein Joint Venture von Shell und Exxon Mobil, hier Gas – mit konventionellen Methoden, wobei das Gas dank des natürlichen Drucks durch Bohrlöcher nach oben strömt. Durch die Bohrungen werden die Gesteinsschichten porös, und ihre unterschiedliche Dichte lässt den Boden erzittern. Fracking wurde in Groningen nie angewendet.
Gemessen am Rest der Niederlande ist die Provinz Groningen ziemlich dünn besiedelt. Doch für ein Gasfeld dieser Dimension wohnen darüber im Nordosten des Landes vergleichsweise viele Menschen. Dass bei denen die Erde immer häufiger wackelte, nahm man in den anderen Provinzen zur Kenntnis – mehr aber lange Zeit auch nicht. Was wiederum bemerkenswert ist, da das Land nach der Entdeckung des Gasfeldes zügig und flächendeckend auf Erdgas umstellte. Als die Beben im neuen Jahrtausend immer häufiger und heftiger wurden, waren ganze 97 Prozent der Haushalte vom Groninger Gas abhängig.
Im Erdbebengebiet jedoch wuchs der Unmut: über die Risse in immer mehr Gebäudemauern, über Häuser, die an Wert verlieren, sowie das langsame Absinken des Bodens. Und die Ignoranz, mit der man sich vom „Westen“ behandelt fühlt – dem politisch und wirtschaftlich dominanten Ballungsraum mit Den Haag und Amsterdam, wo man den Rest des Landes gern als „Bauern“ bezeichnet.
Was die „Gasbeben“ betrifft, warf man den Groningern vor, sie bauschten das Gefährdungsniveau bloß auf: weil diese Beben auf der Richterskala meist unter 2 Punkten liegen. Vergessen wird dabei allerdings, dass induzierte Beben, anders als tektonische, relativ dicht unter der Oberfläche stattfinden. Daher werden auch bereits leichte Stöße deutlich wahrgenommen und haben ein höheres zerstörerisches Potenzial.
Nicht zuletzt als Ergebnis dieses Konflikts entsteht 2009 die Bürgerinitiative Groninger Bodem Beweging (GBB). In den folgenden Jahren werden die Aktivisten landesweit bekannt, denn bald darauf springt mit der Fördermenge auch die Zahl der Erdbeben in die Höhe. 2011 sind es mehr als 80 pro Jahr, 2012 fast 100, 2013 gar mehr als 120. Im August 2012 wird bei Huizinge mit 3,6 auf der Richterskala das stärkste aller Beben gemessen. Das meteorologische Institut KNMI prognostiziert kurz darauf zukünftig Magnituden zwischen 4 und 5. „Groningen“ wird zum nationalen Reizthema, bei Ortsbesuchen des damaligen Wirtschaftsministers Henk Kamp ist die Stimmung aufgeheizt.
Als auch die Minenbaubehörde SodM rät, im Namen der Sicherheit in der Region die Fördermenge schnell und drastisch zu senken, ist klar: Ein Festhalten am Groninger Gas ist fahrlässig und unverantwortlich. 2014 kündigt der Wirtschaftsminister an, das Volumen drei Jahre lang um 80 Prozent zu reduzieren. Doch die Zahl der Beben sinkt nur vorübergehend und liegt 2017 wieder bei über 120. 2018 beschließt die Regierung in Den Haag, die Gasgewinnung 2030 einzustellen, nicht zuletzt unter dem Eindruck eines weiteren schweren Bebens nahe beim Dorf Zeerijp mit Stärke 3,4.
Im Mai 2019 wackelt die Erde bei Westerwijterd (Magnitude 3,2). Nachdem sich Premier Mark Rutte im Parlament bei den Groningern entschuldigt, macht die Regierung im September bekannt, dass der Gaskran schon 2022 geschlossen wird. 2020 soll die Menge bereits unter der als sicher geltenden Grenze von 12 Milliarden Kubikmeter liegen. Als Notfalllösung für kalte Winter soll die Option „Groningen“ indes bis 2026 erhalten bleiben. Derwin Schorren, Vizevorsitzender der Groninger Bodem Beweging, zieht ein ambivalentes Fazit: „Natürlich ist es ein Erfolg, dass der Gaskran zugeht. Aber bis das wirklich geschieht, ist es 2026, und dann halten die Beben mindestens noch bis 2028 an.“
Die jüngsten Entwicklungen geben Schorren Recht. Wie das meteorologische Institut just bekanntmachte, gab es auch 2019 noch 87 Erdbeben, das letzte – schwache – an Silvester. Elf davon erreichten 1,5 oder mehr auf der Richterskala. 2018 waren es 90 insgesamt und 15 von minimaler Stärke 1,5. „Die Abnahme der Förderung führt zu weniger Beben, und damit sinkt auch die Chance auf schwerere“, so Läslo Evers, Leiter der Seismologie-Abteilung am KNMI, zur taz. „Der Beschluss, die Gasgewinnung zu stoppen, ist darum richtig. Trotzdem können die Beben auch danach noch jahrelang anhalten. Und wie viele Jahre das sind, lässt sich nicht sagen.“
Schnelle Inspektion gefordert
Aus genau diesem Grund mahnt die GBB zur Eile. „Es ist wichtiger denn je, dass sich Den Haag mit Groningen beschäftigt“, heißt es in einer Pressemitteilung von Ende des Jahres, die sich auf einen aktuellen Gesetzesentwurf bezieht, der Reparatur-Prozedur von 26.000 beschädigten Häusern regeln soll. Nötig sei, so die GBB, schnelle Inspektion und unkomplizierte Verstärkung der betroffenen Gebäude. Dass die Aktivisten auf diesem Punkt bestehen, ist kein Zufall: Die Behandlung der Schadensfälle durch eine unabhängige Kommission ohne Beteiligung der NAM war jahrelang umstritten.
Hinzu kommt eine Klage der Stiftung „Wertverminderung durch Erdbeben Groningen“, die von der Niederländischen Erdöl-Gesellschaft insgesamt 122 Millionen Euro fordert, um die finanziellen Verluste von rund 5.000 Bewohnern der Region auszugleichen. Man beruft sich dabei auf ein Gerichtsurteil von 2015, wonach die Betreiberin des Groninger Gasfelds für solche Verluste verantwortlich gemacht werden kann. Ein anderes Gericht in Leeuwarden urteilte im Dezember, dass die NAM auch für immateriellen Schaden und psychisches Leiden von Erdbebenopfern aufkommen muss. Die Initiative GBB wiederum bereitet derzeit eine strafrechtliche Klage gegen die Betreiberin vor.
Die Gewinne landen woanders
Ob die Groninger auch vom Gas profitiert hätten, ist eine Frage, die sich dem GBB-Vizevorsitzenden Schorren nicht stellt. „Wie alle Niederländer konnten wir damit kochen und unsere Häuser aufwärmen. Aber von den Gewinnen ist nicht mal ein Prozent in Groningen gelandet. Furchtbar viele Arbeitsplätze hat es auch nicht gebracht, das Hauptquartier der NAM liegt in der Provinz Drenthe und benötigt vor allem hoch ausgebildetes Personal, das man von anderswo holen kann“, sagt Schorren. „Klar hat die NAM oder Shell im Lauf der Jahre viele Dorfinitiativen und Sportveranstaltungen gesponsert, aber das ist eher in der Kategorie ‚Brot und Spiele‘, damit die lokale und regionale Politik ruhig bleibt.“
Knapp 60 Jahre Förderung haben das Groninger Gasfeld zu gut 80 Prozent geleert. Das machte das niederländische Statistikamt CBS 2019 bekannt. Die Gewinne für den Staatshaushalt belaufen sich demnach auf 416,8 Milliarden Euro. Für Derwin Schorren ist es an der Zeit, dass man in den Niederlanden eine neuen Blick auf die Erdgas-Provinz im abgelegenen Nordosten einnimmt: „Mitleid mit den Groningern ist schön und gut, aber bisher durfte sich das natürlich nicht aufs eigene Portemonnaie oder die Energieversorgung auswirken.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren