Erdbeben in der Türkei und Syrien: Als wäre es gestern gewesen
Bei Beben in der Türkei und Syrien starben vor einem Jahr 60.000 Menschen. Unzählige sind traumatisiert – und haben kaum Hoffnung in die Regierung.
D as Erdbeben hat Semirah und ihre Familie zurückgeworfen. „Meine Kinder haben schon fast ihr ganzes Leben in Zelten verbracht, und jetzt tun sie es wieder“, sagt sie. Seit einem Jahr wohnt die 38-jährige Frau aus Syrien mit ihren sieben Kindern und ihrem Mann in einem Zelt auf einer Brache im Hinterland der türkischen Stadt Antakya.
Auf dem Boden hat sie Decken und Polster gegen die Kälte ausgebreitet. Vor acht Jahren ist Semirah in die Türkei geflohen, heute sagt sie, dass sie kaum einen Unterschied merke: Zwischen ihrem Leben heute und der Zeit damals im Krieg.
Ein Jahr ist es her, dass zwei Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,5 die Türkei und Syrien so stark erschütterten, dass ganze Großstädte verschwanden. Auf einer Fläche, die halb so groß ist wie Deutschland, sind am 6. Februar 2023 und an den Tagen darauf rund 60.000 Menschen gestorben. Mit wem man in der Region auch spricht, fast alle hier haben Angehörige, Freundinnen und Freunde in den Trümmern verloren.
Immer noch gibt es für viele Kinder in der Region nur unregelmäßigen Schulunterricht, für die Familien keine geregelten Einkünfte. Unzählige fallen durch alle Raster und haben keinen Zugang zu einer sicheren Unterkunft. Das Trauma des Erdbebens, für viele Menschen dauert es an.
„Ich habe es so satt, im Zelt zu leben“, sagt Semirah. Sie will ihren Nachnamen nicht nennen. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs wollte sie mit ihrer Familie nur noch raus aus Syrien, erzählt sie. „Wohin war uns egal, Hauptsache weg.“ Für drei Jahre habe sie mit ihren Kindern und ihrem Mann an der türkisch-syrischen Grenze gelebt, auch damals in einem Camp. Semirah fühlt sich ausgeliefert: Im Sommer der unbeschreiblichen Hitze und nun dem Regen und der Kälte auf dem Feld.
Ihr Mann verdingt sich in der Region Hatay als Tagelöhner, doch in der zerstörten Gegend findet er kaum noch Arbeit, erzählt sie. Das einzige regelmäßige Einkommen, das die 9-köpfige Familie hat, sind umgerechnet etwa 80 Euro an Sozialhilfe im Monat, die sie vom türkischen Familienministerium als registrierte Flüchtlinge erhalten.
Das Zelt von Semirah steht neben etwa einem Dutzend weiterer Behausungen, alle Familien hier stammen aus Syrien. Es ist kalt, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, und wegen des anhaltenden Regens stehen die Behausungen im Schlamm. Es riecht nach Feuer, die Menschen heizen in den Zelten mit Kohle und Holz.
Semirah sagt, sie habe Angst davor, dass ein falscher Funken das ganze Camp in Brand setzen könnte. Eine Schule gibt es hier nicht, eine zivilgesellschaftliche Organisation namens Hayata Destek (Hilfe für das Leben) versammelt die Kinder an mehreren Tagen die Woche für gemeinsame Aktivitäten in einem Zelt und bietet psychosoziale Unterstützung an.
Wie viele informelle Zeltansammlungen es in der Erdbebenregion gibt, ist unklar. In der Provinz Hatay, die bei dem Erdbeben am stärksten verwüstet wurde, sind die kleinen Camps jedoch nicht zu übersehen. In Antakya und den angrenzenden Städten lebten vor dem Beben mehr als 600.000 Menschen, heute ist von den Gebäuden kaum noch etwas übrig.
80 Prozent von Antakyas historischer Altstadt ist zerstört, inklusive der jahrtausendealten Sankt-Petrus-Kirche, der Habib-i-Neccar-Moschee und der örtlichen Synagoge. Im benachbarten Defne erstrecken sich heute tiefe Matschflächen über mehrere Straßenzüge. Hier in den ehemaligen Stadtteilen Armutlu und Elektrik standen die Häuser dicht an dicht – Bulldozer haben hier nach dem Erdbeben die Spuren der Verwüstung inzwischen plattgemacht.
An den Straßenecken in Antakya wohnen weiterhin zahlreiche Familien in jeweils drei oder vier Zelten. Kinder stacksen in Hausschuhen und ohne Winterklamotten durch die Pfützen. So sollte niemand aufwachsen.
Nach UN-Angaben benötigen seit dem Erdbeben etwa 5,2 Millionen Menschen humanitäre Unterstützung, darunter 2,5 Millionen Kinder. Der Verein Gökkuşağı (Regenbogen), der in der kurdisch geprägten Stadt Adıyaman psychosoziale Hilfe und Sanitäranlagen für die Straßencamps organisiert, beobachtet bei syrischen Familien immer mehr Fälle von Kinderehen und Kinderarbeit.
In dem Verein sehen sie die gestiegene Armut der Menschen als wesentlichen Grund hierfür. So sei bei vielen syrischen Familien in der Region eine Brautgabe von etwa 10.000 Lira üblich, umgerechnet sind das etwa 300 Euro. Bei sehr religiösen Familien würden Hochzeiten mit 13 Jahren zudem als rechtmäßig angesehen. Dabei ist das offizielle Heiratsalter in der Türkei 18 Jahre.
Doch in der Erdbebenregion, scheint es, kann das derzeit niemand richtig kontrollieren. In Adıyaman ist die öffentliche Verwaltungsstruktur weitgehend zusammengebrochen. Die Stadtverwaltung stürzte hier bei dem Erdbeben ein, die Hälfte der 800 Schulen sind kaputt. Insgesamt kollabierten hier fast 30.000 Gebäude oder sie gelten als schwer beschädigt.
Ein Jahr schon hat hier kein regelmäßiger Unterricht mehr stattgefunden. Viele Kinder haben nach Angaben des Vereins Gökkuşağı deshalb den Anschluss verpasst und gehen eher illegal arbeiten, statt zu lernen – auch bei der Beseitigung der Trümmerreste, heißt es, sollen hier immer wieder Kinder mitschuften.
In der Stadt wirken die Spuren des Erdbebens nah. Hier stehen sie noch: Häuser, bei denen eine Außenwand fehlt und bei denen man in die verlassenen Innenräume blicken kann, oder Gebäude mit riesigen Rissen im Fundament. Vor der Wiederbelebung der Stadt steht noch der Abriss an, dabei läuft parallel auch schon der Neubau – weit außerhalb der Stadt.
„Toki“ heißt das Zauberwort der Regierung in Ankara für den Aufbau nach dem Erdbeben. Die Abkürzung steht für die türkische Wohnungsbaubehörde, die schon seit Jahrzehnten im ganzen Land Unterkünfte in serieller Bauweise umsetzt. Seit dem Erdbeben entstehen in Adıyaman und den anderen Erdbebenprovinzen zusätzlich Tausende neue Häuser.
Die Baustellen für die Apartmentblocks sind oft zu sehen, teilweise wirken die 5- bis 8-stöckigen Häuser auch schon fertiggestellt – in riesigen Komplexen und neuen Trabantenstädten in der Provinz. 41.000 neue Wohnungen will die Toki-Behörde allein in Adıyaman in den kommenden Monaten schaffen. Hinzukommen sollen 24.000 neue Häuser in Dörfern.
Doch nicht jeder wird sich eine der viel beworbenen neuen Wohnungen überhaupt leisten können – und manche wollen es auch nicht zu den Konditionen, die die staatliche Baubehörde aufruft. Cemâlit, der seinen Nachnamen nicht nennt, hat das Erdbeben vor einem Jahr zusammen mit seiner Familie in Adıyaman überlebt. Bis heute wohnt der Familienvater in einem Zelt auf den Trümmern seines Hauses mitten in der Stadt, zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und seinen beiden Enkeln.
Cemâlit hatte durchaus Interesse an zwei Wohnungen für seine Familie, die ihm in einem der Blocks, die gerade in der Nachbarschaft gebaut werden, angeboten wurden. „Die Bedingung war, dass ich mein Land verkaufe und zusätzlich einen Kredit von 50.000 Lira aufnehme“, sagt er. Er lehnte ab, weil er nicht für umgerechnet etwa 1.500 Euro noch beim türkischen Staat in der Kreide stehen wollte.
„Mein Grundstück ist 800 Quadratmeter groß, hier könnte man ein ganzes Hochhaus drauf errichten“, sagt Cemâlit. Er sieht nicht ein, warum er sein Land verscherbeln und sich zusätzlich noch verschulden soll, wenn seine Familie bei dem Beben ohnehin schon alles verloren habe. Immer wieder würden Mitarbeiter vorbeikommen und versuchen, ihn zu bearbeiten, noch einzuwilligen.
Weil er fürchtet, dass in seiner Abwesenheit einfach die Baumaschinen anrücken könnten, um ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen, will er auch nicht in einem der offiziellen Containerdörfer leben, die es in der Erdbebenregion gibt. Er hält mit seiner Familie Stellung auf seinem Land – und sei es auch nur in einem Zelt.
Derweil bemüht sich die türkische Regierung, die Menschen aus den Straßencamps in die Containerdörfer umzusiedeln. Es scheint, als habe sich der Staat aus der direkten Unterstützung derjenigen, die in inoffiziellen Camps leben, weitgehend zurückgezogen. Das türkische Familienministerium, der türkische Rote Halbmond und auch die UN-Organisationen im Land konzentrieren ihre Hilfen in den offiziellen Anlagen.
In der Provinz Adıyaman leben 70.000 Menschen in diesen Siedlungen. Ein Container ist 20 Quadratmeter groß und soll Platz für eine ganze Familie bieten. Die Siedlung Akpınar etwa ist offiziell an das Zentrum der Stadt Adıyaman angebunden, befindet sich aber 40 Kilometer entfernt davon. Hier leben 4.600 Menschen auf einer Anhöhe fernab von anderen Dörfern. Der Blick geht hinaus auf den Atatürk-Stausee und die schneebedeckten Ausläufer des Taurusgebirges dahinter. In Akpınar leben fast nur Geflüchtete aus Syrien. Das Gelände ist eingezäunt, wer reinkommen will, muss dem Wachposten am Tor eine Erlaubnis zeigen.
Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit finanziert zusammen mit dem Nothilfeprogramm der Europäischen Kommission in dem Containerdorf Kurse für Jugendliche und Erwachsene. Junge Frauen können etwa in einem Friseurinnenseminar das Haareschneiden lernen und bekommen anschließend ein Zertifikat. Auch Nähkurse gibt es in dem Containerdorf, sowohl Schneiderinnen als auch Friseurinnen brauche es sehr in Adıyaman, heißt es.
In den Fluren der Siedlung ist es kalt und zugig, die Container sind nicht gut isoliert. Manche Unterkünfte haben einen Wasseranschluss und ein eigenes Bad, doch längst nicht alle. Teilweise sind die Container mit blauen Planen gegen den Regen abgedeckt, weil sie nicht vernünftig abdichten. Eine Grund- und Mittelschule soll es in dem Camp geben, eine weiterführende Schule jedoch nicht. Die jungen Frauen in dem Friseurinnenkurs sprechen kaum Türkisch. Wie und wann sie so als Friseurin arbeiten sollen, fernab von der Stadt, bleibt rätselhaft.
Das Camp Akpınar existierte schon einmal als Unterkunft für Geflüchtete aus Syrien, vor einigen Jahren wurde es aber wieder dicht gemacht. Die Bewohner*innen sollten sich in Adıyaman eine eigene Bleibe suchen und sich in die Gesellschaft integrieren. Nach dem Erdbeben wurde das Containerdorf im Sommer als Siedlung für Syrer*innen wieder eröffnet. Generell hat das Beben die Spaltung der türkischen Gesellschaft befördert.
Im Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr führte die Lage der Geflüchteten in der Türkei zu heftiger Polemik. Der damalige Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu, damals auch Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, hatte bei einer Rede in Antakya im vergangenen Mai unter großem Jubel angekündigt, die Syrerinnen und Syrer in der Türkei wieder in ihre Heimat zurückschicken zu wollen. Er bediente damit ähnliche Gefühle wie Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der bereits 2019 angekündigt hatte, zwei Millionen Geflüchtete aus der Türkei im Norden Syriens ansiedeln zu wollen.
Knapp vier Millionen Schutzsuchende in der Türkei
Seit mehreren Jahren ist die Türkei das Land, das weltweit am meisten Schutzsuchende aufgenommen hat: Nach offiziellen Informationen sind es knapp 4 Millionen Menschen. Fast die Hälfte von ihnen ist nach UN-Angaben in den Erdbebengebieten registriert. Finanzielle Unterstützung erhalten die Menschen etwa mit einer Geldkarte des Roten Halbmonds.
Durch das Projekt, das mit Geldern der Europäischen Union finanziert wird, erhalten registrierte Geflüchtete in der Türkei aktuell etwa 300 Lira pro Monat. Wegen des andauernden Wertverlusts der Lira sind das derzeit weniger als 10 Euro. Die Wirtschaftskrise stellt gerade die Menschen am Rande der Gesellschaft vor zusätzliche existenzielle Nöte in der Türkei, auch ohne das Erdbeben.
Wer in ein Camp wie Akpınar fernab von der Bevölkerung zieht, begibt sich vollends in die Hände des türkischen Staates. Auch eine Abschiebung in das benachbarte Syrien ließe sich aus den segregierten Erdbebensiedlungen leicht umsetzen. Wer weiß, ob das wegen der aufgeladenen Stimmung im Land und der immensen Herausforderungen des Wiederaufbaus nicht die nächste Station sein könnte? Ein Leben auf eigene Faust fernab der offiziellen Camps ist beschwerlich, wenn man alles verloren hat. Doch es erspart einem erst mal die Auslieferung an die türkischen Behörden.
Semirah sagt in ihrem Zelt auf der Brache bei Antakya, sie habe Angst, wenn sie an das Erdbeben zurückdenke. Wie die Zeit seit ihm vergangen ist, erscheint ihr schleierhaft: Es fühle sich an, als wäre das Beben gestern gewesen. In ihrer Behausung will sie es für ihre Kinder so bequem machen wie möglich – sie sollen nicht merken, unter welchen Umständen sie leben. Doch als Semirah die Decke hochhebt, auf der sie sitzt, kommt darunter der nackte Steinboden zum Vorschein. „Ich kann machen so viel ich will. Es ist und bleibt ein Zelt.“
Die Recherche in der Erdbebenregion fand im Rahmen einer von der europäischen Katastrophenschutz-Direktion finanzierten Reise statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“