piwik no script img

Er war ein Kind

Nachruf Realität Film: Der Experimentalfilmer und Sammler Werner Nekes ist tot

Werner Nekes Foto: dpa

„Aisthesis“ – dem griechischen Wort für sinnliche Wahrnehmung verdanken wir den Begriff „Ästhetik“. Im Experimentalfilm, der sich um Physik und Repräsentation der vorfilmischen Welt nicht scheren muss, darf Kino ganz Ästhetik sein, um unsere Wahrnehmung als solche auszumessen. Doch was nimmt man unter Kinobedingungen schon (für) wahr? Wenn die Bilder laufen, ist das träge Auge schon ausgetrickst.

Keiner wusste das so gut wie der 1944 in Erfurt geborene Experimentalfilmer und Medienhistoriker Werner Nekes, der im abseits vom Betrieb gelegenen Mülheim a. d. Ruhr seinen Wirkungsort gefunden hatte. Als die Filmwissenschaft noch im Begriff war, sich mühsam von der Literaturwissenschaft abzunabeln, interessierte er sich schon für das, was zwischen zwei Bildern liegt, für die Wunder jenes kurzen, dunklen Moments, in dem der Zuschauer die diskreten Bilder zu einem Bewegungsablauf synthetisiert.

In „jüm-jüm“ (1967) macht sich Nekes dies zunutze: Indem er den Flow einer Kinderschaukel nach mathematischem Montageprinzip zerhäckselt, stellt er die Physik unserer Welt buchstäblich auf den Kopf. Das Filmbild ist sich seine eigene Realität. Diese zu erkunden und zu gestalten war Nekes ein Spiel.

„Werner ist ein Kind“, sagte Helge Schneider anerkennend über seinen Mülheimer Nachbarn. Gemeinsam drehten sie die wunderbar grobkörnige, anheimelnd triste, vom Krypto-Dadaismus der Neuen Deutschen Welle beeinflusste Schlagerkomödie „Johnny Flash“, in der es vor optischen Tricks und Verfremdungen wimmelt: einer der schönsten BRD-Filme der 80er.

Die meisten dieser Gags entspringen der Vorgeschichte des Kinos, der Welt der optischen Täuschungen: Spielzeuge und Novelties des 19. Jahrhunderts oder früher, fernab bürgerlichen Kunstverständnisses, in denen Nekes aber die Grundlage des Kinos und besonders des Experimentalfilms ausmachte.

Als obsessiver Sammler in Sachen „Film vor dem Film“ häufte er bald Schätze in so hoher Zahl an, dass die legendäre „Sammlung Nekes“ bald ein ehemaliges Fabrikgebäude füllte. Einen kleinen Einblick in diesen sensationellen medienarchäologischen Fundus gestattet die Filmreihe „Media Magica“ mit dem jungen Christoph Schlingensief an der Kamera. Der große Traum, diese Zauberkammer in ein Medienmuseum zu überführen, blieb unerfüllt.

Am Sonntag ist Werner Nekes im Alter von 72 Jahren gestorben. Das Kino verliert einen einzigartigen Ästhetonauten.

Thomas Groh

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen