Entwicklungen bei der Blindenschrift: Punkte statt Striche
Blinde lesen mit der Brailleschrift Schachzüge, Noten und auch Strickmuster. Dabei spielen Smartphone und Tablet eine immer größere Rolle.
„Nichts als die Wahrheit“ liest André Rabe gerade, von Dudley W. Buffa. Er liest gern Krimis wie diesen. Nicht seine Augen, sondern seine Finger fahren dabei über die Seiten – erklärt er am Telefon. Denn der 48-jährige Telefonist aus Hamburg ist von Geburt an blind und liest in Brailleschrift. Statt Buchstaben in Schwarzschrift, so nennt man die gedruckte Schrift der Sehenden, ziehen sich bei der Brailleschrift Linien aus kleinen, punktförmigen Erhöhungen über die Seiten. Aus zwei schweren Bänden bestehe sein Krimi, erklärt er, je 30 mal 27 Zentimeter groß, das Papier ist sehr dick.
Mehr als 350.000 Menschen, die blind sind oder weniger als 30 Prozent der „normalen“ Sehkraft besitzen, leben in Deutschland. Viele lernen Blindenschrift in der Schule. Die meisten erblinden erst im Laufe ihres Lebens. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber laut Schätzungen beherrschen nur 20 Prozent der Blinden hierzulande die Brailleschrift.
Eine ziemlich geniale Schrift übrigens, mit der sich nicht nur das Alphabet, sondern auch Noten, mathematische Symbole, Sonderzeichen für den PC und sogar Strickmuster, elektronische Schaltkreise oder Züge im Schach darstellen lassen.
Erfunden wurde die Brailleschrift von Louis Braille, als er sechzehn Jahre alt war. Als Dreijähriger hatte sich der Franzose bei einem Unfall in der Sattlerwerkstatt seines Vaters am Auge verletzt. Es entzündete sich, und nach zwei Jahren war Braille blind. An einer Blindenschule in Paris lernte er die „Nachtschrift“ von Charles Barbier kennen. Der ehemalige Artilleriehauptmann hatte diese als Geheimcode fürs Militär entwickelt, um auch im Dunkeln Befehle zu übermitteln. Davon inspiriert erarbeitete Braille sein Sechs-Punkte-System, das er im Jahr 1825 vorstellte.
Marburg gilt als „Blindenstadt“
Doch die Schrift setzte sich lange nicht durch. Obwohl sie von Blinden schnell erlernt werden kann, wurde sie erst 1850 offiziell an französischen Blindenschulen unterrichtet. 1878 wurde Brailles Erfindung auch international zur verbindlichen Blindenschrift erklärt – ein Moment, den der Erfinder selbst nicht mehr erlebte. Er starb 1852 an Tuberkulose.
Ob Russisch, Niederländisch, Spanisch, heute gibt es für fast jede oft geschriebene Sprache auf der Welt auch eine Brailleschrift. Wichtig: Braille selbst ist keine eigene Sprache, sondern ein Code. Er dient lediglich der Übersetzung verschiedener Sprachen und Symbole. Jede Sprache hat ihre eigenen Zeichen, und Braille kann sogar auf nicht-alphabetische Schriften angewendet werden, wie Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch. Da es zu viele chinesische Schriftzeichen gibt, werden die Laute in komprimierter Form, nicht aber die Bedeutung der einzelnen Schriftzeichen, dargestellt.
Marburg gilt als „Blindenstadt“. Dort sind Infos in Brailleschrift im öffentlichen Raum weit verbreitet: Braille-Preisschilder im Supermarkt, ertastbare Orientierungspläne im Bahnhof und Blindenschrift-Speisekarten im Restaurant. Langsam ziehen andere Städte nach.
Gleisangaben an Treppengeländern in Bahnhöfen, Braillezeichen an Bankautomaten und auf Medikamentenpackungen sind schon weit verbreitet. Auch amtliche Schreiben können in Blindenschrift angefordert werden. Blinde Menschen wünschen sich aber noch mehr: etwa mehr Brailleschrift auf Verpackungen, zum Beispiel auf Pizzakartons.
Der erste Smartwatch in Braille
Im Alltag würde er die Brailletafel benutzen, erklärt André Rabe, eine Schablone, in die er mit einer Nadel die Punkte der Brailleschrift stanze, um so auf Produktpackungen im Haushalt zu schreiben, was drin ist. Für längere Texte nehme er den Perkins-Brailler – eine Schreibmaschine für Blindenschrift – mit der sich Seiten in A4 beschreiben ließen. Auch Computer, Smartphone und E-Book würden immer wichtiger für ihn. Um Computertexte oder E-Mails zu lesen und zu schreiben, arbeite Rabe dabei mit einem Screenreader, einer Vorlesesoftware.
Ein weiteres Hilfsmittel sind Sprachsteuerungen wie das „Alexa, wann fährt mein Bus?“. Es ist ein internetbasierter Assistent, der auf Sprache reagiert. Damit haben blinde Menschen die Möglichkeit, sich ohne Braille im Alltag zurechtzufinden.
„Das ist oft praktisch“, sagt André Rabe, „manchmal sind Sprachausgaben aber ungenau. Hier nutze ich die Braillezeile – ein kleines elektronisches Gerät, das Text in Braillezeichen anzeigen kann – um Texte am PC nachzulesen und auch selbst zu tippen.“
Es gab in letzter Zeit einige andere technische Innovationen, die mit der Brailleschrift arbeiten. So etwa die Dot-Watch. Sie kommt aus Südkorea und ist die erste Smartwatch mit Braillezeichen. Mit 24 Stiften, die sich aus der Oberfläche drücken können, kann man maximal vier Braillebuchstaben darstellen. Sie wandern von links nach rechts wie in einer dreidimensionalen Laufschrift. Die Uhr lässt sich per Bluetooth mit dem Smartphone verbinden und kann Textinfomationen übersetzen – oder auch einfach die Uhrzeit anzeigen.
Werden Finger so müde wie Augen?
Seit einem Jahr ist auch das erste interaktive Hyperbraille-Display auf dem Markt. Die grafikfähige, taktile Oberfläche besteht aus mehreren tausend Stiften und lässt sich ebenfalls per Bluetooth mit Tablets, Smartphones & Co verbinden. Mit beiden Händen lassen sich nicht nur Texte in der Blindenschrift ertasten, sondern auch Tabellen, Bilder und Diagramme. Mit 15.000 Euro ist Hyperbraille allerdings nicht gerade erschwinglich.
Weitere Gadgets, die Blindenschrift flächig darstellen und weniger kosten, sind in der Entwicklungsphase. Solche Erfindungen können für Blinde einen echten Mehrwert bringen, findet André Rabe: „Ganzflächiges Lesen ist viel angenehmer.“ Denn in eine Braillezeile passen nur bis zu 80 Zeichen, das ist in etwa so, als stünde auf jeder Seite eines Buchs in Schwarzschrift nur ein einziger Satz.
Deshalb bestellt sich André Rabe lieber Krimis auf Papier in einer der sechs Punktschriftbibliotheken im deutschsprachigen Raum. Der Postversand ist hier kostenlos. Etwa 500 neue Titel kommen jährlich heraus. Das sind viel weniger als in Schwarzschrift, da erschienen 2016 über 85.000 neue Bücher. Thomas Kahlisch, der Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig, träumt davon, mehr Bücher schneller bereitzustellen: „Toll wäre, wenn der Nutzer am Montag sagt, er möchte etwas lesen, und ich kann ihm am Montag drauf den Lesewunsch in Braille erfüllen.“
Mehr Bücher in Braille – das wünscht sich auch André Rabe. Er liest viel. Ob seine Finger manchmal müde werden wie bei anderen die Augen? „Nein, ich muss aber trotzdem aufpassen, dass ich nicht beim Lesen einschlafe, unter so einem dicken Brailleband schläft es sich nicht so gut.“
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Strick-, Computer- und Musikbraille: Wie funktioniert das?
Braille fürs Stricken
Strickmuster zu lesen ist gar nicht so einfach – auch in Braille nicht
Für Sehende gibt es Strickanleitungen. Und für Blinde auch. Wie liest man die?
Strickanleitungen für Sehende arbeiten meist mit grafischen Zeichen. Eine rechte Masche ist dann etwa ein schwarzes Kästchen, eine linke ein weißes. Sollen zwei Maschen rechts zusammengestrickt werden, ist es ein diagonal geteiltes Kästchen von unten links nach oben rechts. Sollen sie links zusammengestrickt werden, ist die Diagonale andersherum.
Ist das immer so?
Nein, man muss im Glossar gucken, wofür welches Zeichen steht. Und natürlich kann man das leicht in Brailleschrift übertragen: Die linke Masche ist zum Beispiel ein „l“ in Brailleschrift, die rechte Masche ein „r“ in Braille.
Rechte und linke Maschen, das ist noch einfach. Wie ist es bei schwierigeren Mustern?
Die kann man genauso benennen. Ein Umschlag ist dann ein „u“, eine Randmasche ein „k“ wie Kante. Zusätzlich gibt es Erläuterungen in normaler Brailleschrift. Sie erklären, welche Maschen wie gestrickt werden: Zum Beispiel, ob man, wenn man einen Umschlag abstrickt, von rechts oder von links einstechen soll. Klingt kompliziert, deshalb ist es am besten, man lässt es sich von jemanden zeigen, dann ist es ganz einfach.
Okay, aber wie wählt man die Muster und die Farben aus?
Das ist natürlich sehr individuell, aber selbst gestrickte Pullover sind fast immer etwas, das erst mal in der Fantasie entsteht. Blinde können Garn und Muster an fertigen Kleidungsstücken erfühlen und sich vorstellen, wie es an ihrem Modell aussehen könnte. Für die Farben gibt es Farberkennungsgeräte, die einem sagen, welche Farbe man vor sich hat. Sie sehen ein bisschen aus wie Diktiergeräte und erkennen dank eines Farbsensors mehrere 100, einige sogar bis zu 1.700 Farbnuancen.
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Braille am Computer
Mit einem Trick wird die Brailleschrift mit der Computertastatur kompatibel. Man erweitert die sechs Punkte, die für jeden Buchstaben zur Verfügung stehen, einfach um zwei weitere
Auf einer Computertastatur hat man 255 Zeichen. Wie geht das in Brailleschrift?
Indem man die sechs Punkte, mit der jedes Brailleschriftzeichen dargestellt wird, um zwei Punkte erweitert, die man darunter setzt. So erhält man zwei senkrechte Viererreihen, die ermöglichen statt 64 nun 256 verschiedene Zeichen. Damit können auch alle Sonderzeichen wie () oder / dargestellt werden. Dazu braucht man allerdings die Braillezeile.
Braillezeile, was ist das?
Sie ist ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen. Die schmale Braillezeile sieht ein bisschen aus wie ein Minikeybord und wird per Bluetooth mit Computer, Tablet, E-Book oder Smartphone verbunden. Ein Screenreader, eine Vorlesesoftware, liest die digitalen Texte aus und sendet die Informationen weiter an die Braillezeile. Eine elektrische Spannung sorgt dann dafür, dass die richtigen Plastikstifte als Punkt aus einer Fläche herausragen und die Computerbrailleschrift bilden. Eine Braillezeile kann bis zu 80 Zeichen in einer Reihe darstellen, dann wird die Zeile aktualisiert, und die Finger fahren von Neuem darüber. Leider sind Braillezeilen für viele Blinde bisher unerschwinglich. Die bis zu 6.000 Euro können oft nur mit Hilfe des Arbeitsamts, der Krankenkasse oder anderer Leistungsträger finanziert werden.
Kann ich auch auf meinem Smartphone direkt mit Computerbraille schreiben?
Ja. Einige Smartphones können auf einen Braille-Eingabemodus umgestellt werden, dann erscheint eine Touchtastatur, die die acht Computerbraillepunkte links und rechts des Bildschirms simuliert – sie können mit acht Fingern angesteuert werden. Legt man einen Finger oben links auf das Display, sagt einem die Sprachsteuerung, dass dort das „a“ zu finden ist. Je nachdem, welche Punkte gleichzeitig gedrückt werden, ergibt sich ein neuer Buchstabe in Braille. Mit Brailletouch können bis zu 32 Wörter pro Minute mit 92-prozentiger Genauigkeit eingegeben werden.
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Braille für Musik
Erst ertasten Musizierende die Notationen, die in die Braillenotenschrift übertragen wurden, merken sie sich und spielen sie dann – klingt einfach, erfordert aber hohe Konzentration
Wie werden Noten in Musikbraille übertragen?
Geschrieben wird Musikbraille auch mit dem Sechs-Punkte-System. Ein spezielles Ankündigungszeichen sagt: „Stopp, ab jetzt beginnt die Musikschrift.“ Danach geht es weiter mit den bekannten sechs Punkten, die aufgrund der andersartigen Informationen der Musik nun teils eine andere Bedeutung annehmen – ein „a“ in Braille ist also kein „a“ in Musikbraille.
Für die Wiedergabe der Noten werden zwei Werte in einem Braillezeichen codiert: die Tonhöhe der Note (C, D, E, F, G, A, H) in den oberen vier Punkten und die Tondauer der Note (1/1, 1/2, 1/4, 1/8) in den zwei unteren Punkten. Neben der Codierung der Tonhöhe und Tondauer der einzelnen Noten, beinhaltet das komplexe System auch viele Zusatzsymbole für Pausen, Akkorde, Oktaven oder Harmonien – so dass sich alles von Bach bis Beyoncé spielen lässt.
Wie werden Noten übersetzt?
„Früher wurden die Musiknoten von Hand in Blindenschrift übersetzt. Sie können sich vorstellen, wie lange das gedauert hat.“ Thomas Kahlisch ist Leiter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB). Weil das so aufwendig und teuer war, wurden von 1995 bis 2002 in Deutschland überhaupt keine Braillenoten produziert. Dann kam Thomas Kahlisch mit dem DaCapo-Projekt: „Wir wollten das technisch vereinfachen.“ Heute schreiben uns Musiker, welche Musikstücke sie brauchen. Die DZB scannt diese ein, und ein Programm übersetzt sie fast automatisch in Braille-Notenschrift. Die Musiker erhalten ihre Braillenoten als Papierdruck oder in Computerbraille – und das innerhalb einer Woche.
Ist das schwer zu lernen?
Nicht wenn man Brailleschrift schon kann, aber so einfach ist es auch nicht: „Bei einem Instrument fängt man ja auch nicht mit der Partitur an, sondern mit den einfachen Dingen, und das unterscheidet sich dann eigentlich nicht mehr davon, wie das ein sehender Mensch erlernt“, sagt Kahlisch.
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