Entspannter leben dank Lockdown: Die perfekte Universalausrede
Ungewaschen, ungekämmt, unrasiert – sieht oder riecht ja eh niemand. Unser Autor war schon immer Lockdown-Mensch und findet gerade zu sich selbst.
E wiger Lockdown finde ich gar nicht schlimm. Ich frag mich auch schon, ob was nicht stimmt mit mir, aber so ist es halt. Der Lockdown fühlt sich für mich an wie diese paar Tage rund um Weihnachten, an denen sich die Stadt leert, Geschäfte geschlossen bleiben, nichts los ist und man in der Bude hockt und ohne schlechtes Gewissen Süßkram mampft und sinnlos fernsieht. Also eigentlich ziemlich gut und hyggelig.
Ich weiß schon, andere haben jetzt Stress ohne Ende, die Kinder turnen pausenlos herum und quengeln, deren E-Learning fühlt sich wie ein schlechter Witz an und sie fragen sich verzweifelt, ob das alles überhaupt jemals wieder ein Ende haben wird.
Aber ich wohne allein, kann machen, was ich will, habe meine Ruhe und genieße es. Also sowieso schon, jetzt aber erst recht. Ich glaube, ich war schon immer ein Lockdown-Mensch und komme jetzt einfach zu mir selbst. Nicht, indem ich plötzlich Yoga mache oder mir ein absurdes neues Hobby zulegen würde oder was die Leute sonst noch so machen, um Corona zwanghaft irgendetwas Positives abzugewinnen. Sondern, indem ich einfach nur bin, wie ich bin, das aber in Extremform.
So habe ich es beispielsweise prinzipiell nicht so mit Sauberkeit. Andere würden auch sagen: Bei mir sieht es eigentlich immer ziemlich scheiße aus. Unabgewaschenes Geschirr, verstaubte Regale, kein klinisch reines Badezimmer, ein paar Spinnweben, das stört mich persönlich alles überhaupt nicht. Aber normalerweise kommt halt irgendwann doch mal wieder jemand zu Besuch mit etwas durchschnittlicheren Hygienestandards.
Den ganzen Tag in Jogginghose, sorry Karl!
Und dann fange ich panisch an, überall ein wenig herumzuwischen, zu feudeln und diesen komischen Fleck auf dem Küchenboden wegzumachen, der auch ein wenig klebrig ist, damit es nicht zu peinlich wird. Aber jetzt will eh niemand mehr vorbeikommen. Und falls wider Erwarten doch, sag ich einfach: Geht gerade nicht, habe keine Zeit. Normalerweise kommt nach dieser Ausrede immer ein Gequengel und Abgefrage: Warum denn nicht? Und ob man nicht doch rumschauen könne, nur für einen Kaffee. Aber jetzt sage ich einfach nur „Corona!“, und es ist Ruhe im Karton. Herrlich!
Mein Leben ist einfach viel unkomplizierter und bequemer geworden. Corona ist die perfekte Universalausrede für alles, ich weiß gar nicht, wie ich nach der Pandemie je wieder ohne diese auskommen soll.
Ich renne den ganzen Tag in meiner Jogginghose herum und wechsle die Klamotten auch nicht, wenn ich dann ausnahmsweise doch nach draußen muss, etwa zum Einkaufen. Warum auch? Die anderen im Supermarkt sind oft ähnlich underdressed wie ich, vor denen muss ich mich also wirklich nicht schämen. Und Karl Lagerfeld, das wurde mir während Corona endlich klar bewusst, ist einfach mal tot.
Eine Homestory der etwas anderen Art
Ich bin auch so ein Zyklen-Typ. Im Sommer treibe ich Sport ohne Ende, im Winter mache ich gar nichts. Das erzeugt bei mir immer extreme Jan-Ullrich-Effekte. Im Sommer geht’s mit der Wampe, im Winter schwabbelt und wölbt sich alles und ich fange an, mich selbst dafür zu hassen. Die Hosen passen nicht mehr, der Pulli ist zu eng, das ganze Elend halt.
Normalerweise rede ich mir im Winter beim Blick in den Spiegel dann immer verzweifelt ein, jetzt aber doch mal mit dem Joggen zu beginnen oder ins Fitnessstudio zu gehen. Was ich dann natürlich beides nicht regelmäßig mache. Jetzt beiße ich relaxed in meine „Snickers“, ziehe für die paar Minuten in der Öffentlichkeit einfach die dicke Winterjacke an, unter der die dicksten Beulen verschwinden und die hundertprozentig längst wieder zu eng gewordenen Hosen – wie gesagt: Ich weiß gar nicht mehr, wo die überhaupt sind.
Friseure zu – kratzt mich nicht, ich habe einen Langhaarschneider. Ungewaschen, ungekämmt, unrasiert – na und, sieht oder riecht ja eh niemand. Kein Klopapier – egal, ich bin Zeitungsleser. Das war sie, meine Homestory mit der Überschrift „Entspannter leben dank Lockdown“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?