Entscheidung bei der Tour de France: Lauter Siegeskannibalen
Selten hat ein Team die Tour so dominiert wie das von Gesamtsieger Jonas Vingegaard. Wer nach Vergleichbarem forscht, landet beim Thema Doping.
Jumbo-Visma holt mit Jonas Vingegaard die Tour de France. Dazu sammelt der niederländische Rennstall zwei weitere Wertungstrikots ein und holt fast ein Drittel der Etappensiege. Die in gelb-schwarze Trikots gekleideten Rennfahrer übertreffen mittlerweile sogar das einstige Dominanzvorbild Sky beziehunsweise Ineos. Es scheint ein Team aus lauter Eddy Merckx’ zu sein – Siegeskannibalen, die ihre Rivalen förmlich auffressen.
Selten hat ein Team eine Tour de France derart im Griff gehabt. Um den Träger des Gelben und des Grünen Trikot in einem Team zu finden, muss man bis 1997 zurückblättern. Vor 25 Jahren gewann Jan Ullrich Gelb in Paris und Erik Zabel holte das Sprintertrikot. Bereits im Jahr zuvor hatte Zabel mit seinem Grünen Leibchen zur Doppelfreude bei Team Telekom beigetragen. Damals gewann Bjarne Riis Gelb.
Der Däne hat jetzt einen Landsmann als Nachfolger. Jonas Vingegaard zementierte auf dem Pyrenäenanstieg von Hautacam seine Vormachtstellung. Es war der Berg, an dem Riis 1996 Gelb eroberte. Ist l’Alpe-d’Huez der Holländerberg, so dürfte Hautacam jetzt zum Dänengipfel mutieren.
Team Jumbo-Visma toppte sogar die einstige Dominanzvorstellung von Team Telekom. Während vor 26 Jahren der Mann in Grün 20 Minuten hinter Kapitän Riis ins Ziel rollte, war in diesem Jahr mit Wout van Aert der beste Sprintpunktesammler im Peloton bis ins Finale von Hautacam ganz vorn mit dabei. Seine Beschleunigung versetzte Tadej Pogacar gar den Knock-out. Bezogen auf die 1990er Jahre wäre das so, als hätte Zabel damals am Berg den fünffachen Toursieger Miguel Indurain stehen gelassen.
Beifang Bergtrikot
Der historische Exkurs zeigt nur die historische Dimension der Dominanz von Jumbo-Visma auf. Der Ritt nach Hautacam bescherte Vingegaard auch noch das Bergtrikot, das er als Beifang dem Berliner Simon Geschke abnahm. „Wir sind an keinem Moment des Rennens auf das gepunktete Trikot gefahren. Es ist ein schöner Zusatz“, versicherte Jumbo-Vismas sportlicher Leiter Grischa Niermann der taz – und äußerte sogar Bedauern, dass sein Top-Rennfahrer das Leibchen abgenommen hatte.
Es war fast zu viel des Erfolgs, selbst für den Taktikfuchs im gelb-schwarzen Begleitwagen. Die dritte Woche wurde ohnehin zu einem Triumphzug für sein Team. Dem Sieg auf Hautacam durch Vingegaard am Donnerstag fügte am Freitag Christophe Laporte einen Sieg im Flachen hinzu. Der Franzose war so stark, dass er sich aus dem in Erwartung eines Massensprints immer schneller werdenden Peloton noch herauslösen konnte. Es war zugleich der erste Etappensieg eines französischen Profis bei dieser Frankreichrundfahrt. Jumbo-Visma ist derart gewaltig, dass ein Helfer des Mannes in Gelb im Nebenjob auch noch die Ehre der Gastgebernation retten kann.
Plötzlich Zeitfahrer
Am Samstag folgte der Doppelsieg im Zeitfahren. Die Überraschung dabei war weniger, dass van Aert gewann. Der Belgier kann exzellent Zeitfahren. Der Tageszweite Vingegaard fiel in dieser Spezialdisziplin bisher nicht so auf. Bei seinen bislang 24 Zeitfahren in der Karriere gewann er niemals, wurde nur einmal Dritter. Lediglich ein Sieg im Teamzeitfahren mit dem dänischen Nationalteam bei der Tour de l’Avenir steht zu Buche.
Einen Prolog, ein kurzes Zeitfahren über weniger als 10 Kilometer, gewann Vingegaard 2018 im Schatten des Montblanc, damals noch für sein dänisches Entwicklungsteam ColoQuick. Ansonsten Zeitfahrflaute. In diesem Jahr war er aber schneller als Pogacar, der sonst auch gern die Zeitfahren bei Grand Tours gewinnt. Und er war schneller unterwegs als Teamkollege van Aert.
Auf den letzten Metern nahm Vingegaard aber Dampf raus. So fiel van Aert der Etappensieg zu. In der Tageswertung war er trotz Bremsspur ein paar Sekunden schneller als Pogacar. In der Gesamtwertung lag er mehr als drei Minuten vorn.
Vorbildlicher Teamgeist
Solche Dominanz wirft Fragen auf. Vingegaard beantwortete sie brav. „Wir sind alle sauber, jeder von uns“, legte er am Samstag auf der Pressekonferenz die Hand für sich und alle seine Teammitglieder ins Feuer. „Ich denke, wir sind so gut, weil wir uns so gut vorbereiten“, ergänzte er noch, und wies auf Höhentrainingslager, das herausragende Material, die Ernährung und überhaupt das Training hin.
Hinzufügen muss man wohl auch die besondere Teamphilosophie bei Jumbo-Visma. Die französische Sportzeitung l’Equipe nannte die in Anlehnung an den „Voetbal total“ der niederländischen Fußballnationalmannschaft in den 1970er Jahren „Radsport total“. So wie bei den Oranjes alle mitstürmten, wenn man den Ball hatte, und alle mitverteidigten, wenn das Spielgerät beim Gegner war, zeichnet sich auch der Wespenschwarm auf dem Rad durch homogene Denk- und Handlungsweise aus.
Damit lassen sich sogar sehr gegensätzliche Ziele verfolgen, wie eben auf Sprintpunkte mit van Aert zu gehen und gleichzeitig Gelb mit Vingegaard im Blick zu haben. Dafür seien monatelange Gespräche nötig, um die jeweiligen Rennfahrer-Egos auf kollektive Ziele einzustimmen. „Ich will mehr sein als nur ein Helfer, der mitfährt. Ich will Rennen gewinnen. Aber wenn ich diese Freiheit habe, kann ich auch besser zum Erfolg des gesamten Teams beitragen“, illustrierte van Aert diese Denkweise.
Abgeguckt hat man sie sich neben dem legendären Oranjeteam auch bei den All Blacks, der Rugbynationalmannschaft Neuseelands. Deren Wahlspruch „Hinterlasse das Trikot an einem besseren Ort“ hebt das Wohlergehen und den Erfolg der Gruppe über Resultate der Einzelnen. Wenn mehr Glorie zum Leibchen kommt, das vorher andere Große trugen, dann ist das Ziel erreicht.
Jumbo-Visma scheint das verinnerlicht zu haben. Es ist ein Baustein zum Erfolg. Ob man die Parallele zu Team Telekom noch weiterverfolgen muss, wird erst die Zukunft zeigen. Die Magenta-Erfolge zerbröselten angesichts der späteren Dopinggeständnisse.
Stand jetzt ist wenig mehr möglich, als der Aufforderung des neuen Tour-de-France-Dominators zu folgen – oder ihr eben nicht zu folgen. „Niemand von uns nimmt etwas Illegales. Ihr könnt uns vertrauen“, beteuerte Jonas Vingegaard. In dem Sport, in dem an jedem Milligramm Material geforscht und jede Wattreserve mobilisiert wird, will der aktuell größte Profiteur all dessen dem Zuschauer nur eine vorwissenschaftliche Kulturtechnik zugestehen: den Glauben an das Gute. So eine Tour de France ist eben eine sehr archaische Angelegenheit. Mitfiebern und Glauben – und das im 21. Jahrhundert.
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