Entmachtung des britischen Parlaments: Was Demagogen bedroht
Warum Trumps Tweets und eine AfD, die ihre Schrauben überdreht, Ablehnung erzeugen könnten. Und warum das bei Boris Johnson noch nicht gilt.
Andere Völker, andere Kulturen – manchmal schon fremd. Sehr fremd. Westminster, London, beispielsweise. Die Wiege der modernen Demokratie. Für die Details habe ich mich lange nicht so sehr interessiert. Freie Wahlen, Parlamentarismus, das reichte mir. Andere Einzelheiten waren mir nicht wichtig.
Nun lerne ich, dass es möglich ist, Regierungschef in Großbritannien zu werden, ohne von der Bevölkerung oder dem Parlament gewählt worden zu sein. Dass ein Premierminister, der als Legitimation nur die Mehrheit seiner Parteibasis vorweisen kann, die Abgeordneten einfach nach Hause schicken darf, bis er durchgesetzt hat, was er durchsetzen möchte. All das angeblich im Namen des Volkswillens. Das ist also das noble Vorbild für demokratische Staaten? Was für eine Enttäuschung.
Der Schauspieler Hugh Grant hat den britischen Premier Boris Johnson wüst beschimpft: „Hau ab, du überschätztes Gummi-Badespielzeug“, twitterte er. Und: „Du wirst die Zukunft meiner Kinder nicht versauen.“ Doch, vermutlich wird Johnson genau das tun. Zumindest werden ihn Kraftausdrücke seiner Gegner daran nicht hindern. Was auch daran liegt, dass der persönliche Erregungslevel nicht konstant auf dem höchsten Niveau gehalten werden kann.
Irgendwann, vermutlich schon sehr bald, wird Hugh Grant keine Lust mehr haben, über den Brexit zu reden und stattdessen lieber schwimmen gehen. Gut für Boris Johnson, schlecht für alle, die wie EU-Kommissar Günther Oettinger auf einen „demokratischen Aufstand“ hoffen.
Mehrere tausend Menschen haben am Samstag vor dem Amtssitz des britischen Premiers Boris Johnson gegen dessen Suspendierung des Parlaments demonstriert. Die Menge in der Downing Street in London skandierte „Boris Johnson, Schande über dich“, einige trugen Transparente mit der Aufschrift „Stoppt den Staatsstreich“. Ähnliche Proteste gab es auch in mehr als 30 anderen Städten in England, Schottland, Wales und Nordirland. (ap)
Der einzige Trost: Die Tatsache, dass niemand im dauerhaften Alarmzustand leben kann und will, ist langfristig eine Bedrohung für Demagogen, jedenfalls in Demokratien. Beispiel: Donald Trump. Analytiker haben inzwischen verstanden, dass der US-Präsident nicht einfach spinnt, sondern mit seinen absurd erscheinenden Tweets einer kühlen Strategie folgt. Sogar, wenn es um den Ankauf von Grönland geht.
Lange war der Mechanismus stets derselbe. Trump setzte einen grotesken Tweet ab, seine Gegner schlugen aufgeregt mit den Flügeln, und er hatte sein Ziel erreicht. Diskutiert wurde über das Thema, das er gesetzt hatte, nicht über eines, das ihm tatsächlich unangenehm war oder werden könnte. Cleveres Ablenkungsmanöver.
Aber es gibt Anzeichen, dass das nicht länger funktioniert. Irgendwann ruft auch der blödeste Tweet nur noch ein müdes Achselzucken hervor. Gegenwärtig sinken die Beliebtheitswerte von Donald Trump, die Wirtschaft schwächelt. Ein erneuter Wahlsieg des Amtsinhabers scheint derzeit keineswegs gesichert zu sein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Weiteres Beispiel: die AfD. Es wird schlimm genug werden bei den Landtagswahlen, schon klar. Aber wohl doch nicht ganz so schlimm wie noch vor einigen Wochen befürchtet. Woran liegt das? Vielleicht haben die Rechtsextremen die Schraube überdreht. Nicht alle, die in jeder Hinsicht – auch im Hinblick auf das demokratische System – gern vor sich hin nörgeln und „alles“ ändern wollen, sind Neonazis. Nicht alle wollen im permanenten Revolutionsmodus leben. Ja, vielleicht hat die AfD es übertrieben. Hoffentlich.
Bedeutet dies, dass sich auch Boris Johnson verzockt hat? Nein. Vermutlich nicht, leider. Das Zeitfenster ist zu eng, die institutionellen Hürden für seine Gegner sind zu hoch, außerdem sind diese zu blöd. Oder zu opportunistisch. Wie sie in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen haben. Pech für die Kinder von Hugh Grant. Und für andere Kinder. Und für ziemlich viele Erwachsene.
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