Enthüllungen über Zeitungsverleger: Widerstandskämpfer war in Wirklichkeit Nazi
Der frühere Verleger der Zeitung Donaukurier, Wilhelm Reissmüller, war in Ingolstadt hochgeachtet. Nun steht seine Ehre infrage.
Sie nannten ihn Doktor. Einfach nur Doktor. Der Doktor wünscht dieses, der Doktor wünscht jenes, sagten seine Mitarbeiter. Dabei war Wilhelm Reissmüller kein Arzt, sondern Verleger des Donaukuriers. Thomas Schuler erinnert sich noch gut, wie er Reissmüller täglich an dem Großraumbüro, in dem die Redaktion saß, vorbei zu seinem Büro hat gehen sehen. Immer schön grüßen, hatte man dem jungen Volontär eingeschärft. Und vor allem: Nie den Doktortitel vergessen! 1986 war das, Schuler hatte da gerade seine journalistische Ausbildung beim Donaukurier in Ingolstadt begonnen.
Dass man neuerdings wieder viel über Reissmüller spricht in Ingolstadt, über einen Mann, der seit 31 Jahren tot ist, dessen Verlag nicht einmal mehr in Familienbesitz ist, nachdem ihn sich die mächtige Passauer Neue Presse 2017 einverleibt hat, hat weniger mit Reissmüllers verlegerischer Tätigkeit zu tun als mit seiner unrühmlichen Vergangenheit.
Damit, dass der Mann, auf den die oberbayerische Stadt lange Zeit meinte, besonders stolz sein zu dürfen, nach dem eine Stiftung, eine Wohnstätte für Behinderte und ein Musikpreis benannt sind, ein überzeugter Nazi war, dass er die Menschen jahrelang über seine Vergangenheit angelogen, ja sich zum Widerstandskämpfer stilisiert hat, gegen manche sogar vor Gericht gezogen ist. Kurz: Dass dieser Ehrenbürger von Ingolstadt alles andere als ein Ehrenmann war.
Und letztlich hat es auch mit seinem Doktortitel zu tun, weshalb mancher Ingolstädter nun möchte, dass dem Mann schleunigst die Ehrenbürgerwürde entzogen wird. Denn es war am Ende seine Promotion, über die Dr. Wilhelm Reissmüller posthum stolperte. Genau genommen sind es die Promotionsakte und die Studienkarte Reissmüllers, die Auskunft über jenen Teil seiner Vita geben, den geheim zu halten er sich zeitlebens bemühte.
Mit dem Latein am Ende
Die Akte war nach seinem Tod im Jahr 1993 zehn Jahre lang gesperrt und lag dann unbemerkt im Archiv der Universität München. Erst 2022 kam jemand – eben jener Thomas Schuler, der inzwischen als Medienjournalist für diverse Zeitungen, darunter auch die taz, schreibt – auf den Gedanken, einen Blick in die Akte zu werfen.
Das Ergebnis: Reissmüller trat bereits 1933 dem NS-Studentenbund, der SA und der SS bei. Er nahm an Appellen und Schulungslagern der SA teil, ritt mit der Reiter-SS. Er war Mitgründer der nationalsozialistischen Münchner Studentenzeitung und dann deren „Hauptschriftleiter“, also Chefredakteur. Bei der NS-Hochschulgruppe der Universität fungierte er als Hauptamtsleiter für Presse und Propaganda, beim Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund als Pressereferent. „Mehr Nazi geht nicht mit 22 Jahren“, zitiert Schuler den Historiker und SA-Experten Daniel Siemens.
Als besonders aufschlussreich erweisen sich Unterlagen, in denen es um Reissmüllers Lateinkenntnisse geht. Um zur Promotion zugelassen zu werden, hätte er das große Latinum vorweisen müssen. Doch Reissmüller beantragte 1936, ihm das Latinum zu erlassen. Die entsprechenden Schriftstücke finden sich alle in der Akte. Als Reissmüller zunächst keinen Erfolg hatte, bat er zumindest darum, nur mit dem Kleinen Latinum promovieren zu dürfen. Die Begründung: Sein Engagement für den Nationalsozialismus habe ihn zu sehr in Beschlag genommen.
Vor allem habe ihn sein Schwiegervater Ludwig Liebl 1936 als außerordentlichen Leiter seines Verlags berufen. Liebl, eigentlich Mediziner, hatte schon 1927 die erste nationalsozialistische Lokalzeitung, den Donauboten gegründet – in Absprache mit Hitler, der in dem Blatt als „persönlicher Freund“ Liebls bezeichnet wurde. Der Donaubote hetzte damals im Stürmer-Jargon gegen Juden und andere den Nazis verhasste Bevölkerungsgruppen. Unter Verlagsleiter Reissmüller übernahm das NS-Blatt auch die Abonnenten der bis dahin konservativen Ingolstädter Zeitung, die fortan nicht mehr eigenständig erschien.
Dreiste Geschichtsklitterung
„Infolge dieser politischen Arbeit, die mich fast ausschließlich in Anspruch nahm“, schrieb Reissmüller der Uni also 1936, „war es mir nicht möglich, die erforderliche Zusatzprüfung in Latein rechtzeitig abzulegen.“ Und: Er müsse dringend sein Studium abschließen, „weil eine Belegschaft von 50 Arbeitskameraden, die seit 1927 für die Sache des Führers in der ältesten NS-Provinzzeitung kämpfen, ihren Vorarbeiter benötigen“. Nach dem Krieg stritt Reissmüller jegliche inhaltliche Arbeit beim Donauboten ab. Aber letztlich muss man sagen, dass der konservative Donaukurier – auch wenn er nach dem Krieg als Lizenzzeitung neu gegründet wurde – in der Tradition des Donauboten und nicht der Ingolstädter Zeitung steht.
„Die Akte ist das letzte Puzzleteilchen, das noch gefehlt hat“, sagt Thomas Schuler. „Sie belegt eindeutig, dass Reissmüller in dieser Zeit ein engagierter Nazi war.“ Das habe der Verleger ja später stets bestritten. In den Siebzigern habe er nicht einmal davor zurückgeschreckt, seinen Donaukurier als Nachfolgezeitung der Ingolstädter Zeitung hinzustellen und somit dreist dessen 100-jähriges Jubiläum zu begehen. „Dabei war er selber 1935 derjenige, der die Übernahme der Zeitung durch den Donauboten umgesetzt hat. Das war seine erste große Tat in Ingolstadt. Damit ist er als Verlagsleiter beim Donauboten eingestiegen.“
Für fünf der Fraktionen und Gruppen im Ingolstädter Stadtrat, darunter Grüne und SPD, ist die Beweislast der neuen Erkenntnisse, die Schuler in der gerade erschienenen Aufsatzsammlung „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer (Band 17)“ veröffentlichte, schwer genug, um nun endgültig eine Aberkennung der Ehrenbürgerwürde Reissmüllers zu fordern. Juristisch sei diese zwar mit seinem Tod erloschen, ein symbolischer Akt sei dennoch notwendig und habe einen „hohen ethischen Wert“, schreiben die Stadträte in ihrem Antrag vom 6. Dezember: „Mit einer faktenbasierten Neubewertung der NS-Belastung eines ehemaligen Ehrenbürgers zeigt eine Stadt, dass sie das viel beschworene,Nie wieder!' ernst nimmt.“
Es wäre nicht das erste Mal, dass Ingolstadt Nazis posthum die Ehrenbürgerwürde aberkennt. Bei Hitler oder Röhm etwa hat man es getan, wenn auch erst 2022, ebenso bei Reissmüllers Schwiegervater Liebl. Im gleichen Jahr beauftragte der Stadtrat das Institut für Zeitgeschichte mit einem Gutachten über Reissmüller. Die Ergebnisse abzuwarten, die frühestens in drei Jahren vorlägen, ist aus Sicht der Antragsteller nach Schulers Veröffentlichung jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Genau dafür aber plädieren CSU und Freie Wähler.
Monopolist Reissmüller
Es gebe da immer noch eine gewisse Hemmung, immer es wenn um die Person Reissmüller gehe, stellt Schuler fest. Es ist, als habe man auch drei Jahrzehnte nach seinem Tod noch Angst vor dem Einfluss des Verlegers.
Reissmüller gehörte zweifelsohne zu den ganz Mächtigen in Ingolstadt. Mit seiner Zeitung schrieb er Stadtgeschichte – so oder so. Man musste ja nicht alles schreiben. Als 14 Stadträte gegen seine Ernennung zum Ehrenbürger stimmten, schrieb der Donaukurier darüber beispielsweise nicht. Dass der damalige Oberbürgermeister Peter Schnell bei der Feierstunde im Rathaus am 23. Dezember 1976 behauptete, Reissmüller habe im Krieg als Gegner jeder Unfreiheit Gefahren für sich und seine Familie auf sich genommen, dürften die Leser des Donaukuriers dann schon eher erfahren haben.
Interessant auch die Sache mit der Studie. 1978 war das. Da hatten sich Münchner Zeitungswissenschaftler die Machtfülle von Provinzverlegern als Thema vorgenommen und diese am Beispiel des Ingolstädter Exemplars zu illustrieren versucht. Reissmüllers gab es schließlich viele. Infolge des grassierenden Zeitungssterbens setzten sich vor Ort – ein paar Metropolen ausgenommen – in der Regel nur die stärksten durch. Wer sich also über das lokale Geschehen informieren wollte, war auf Gedeih und Verderb dem örtlichen Monopolisten ausgeliefert. Darum ging es in der Studie „Donau-Kurier Ingolstadt, eine Zeitung mit Lokalmonopol“. Ihre Veröffentlichung scheiterte jedoch am Widerstand des Verlegers – was zumindest schon einmal die Richtigkeit ihrer These zu untermauern schien.
Die Ingolstädter, die den Spiegel lasen, wussten damals allerdings mehr. Der berichtete ausführlich über die Studie, vor allem über ein fünfstündiges Interview, das Reissmüller den Machern gegeben hatte. Freimütig berichtete er darin aus seinem Verlegeralltag. Die Brisanz des Gesagten erkannte er jedoch offensichtlich erst hinterher, woraufhin er umgehend die Verwendung des Materials untersagt haben soll.
Kommunikative Macht
So bescheinigte Reissmüller laut Spiegel anderen bayerischen Verlegern, „von Tuten und Blasen keine Ahnung“ zu haben und noch nicht einmal richtig Deutsch zu können. Seine eigenen Redakteure bezeichnete er als phlegmatisch.
Ganz anders dagegen seine Eigenwahrnehmung: An ihm könne man nicht vorbei, erzählte er seinen Besuchern. Einen früheren Oberbürgermeister habe er selbst „an das Ruder gebracht“. Und von dem jetzigen, besagtem Peter Schnell, werde er „natürlich oft gefragt“. Und auch der Stadtrat lebe vom Donaukurier, „das spüren die da drüben“. Die Wissenschaftler zogen schwer beeindruckt von dannen und bilanzierten: „Bevor der Stadtrat mit seinen Beratungen beginnt, hat der Verleger sich schon eingeschaltet und mit der Autorität seiner kommunikativen Macht am Telephon oder in Privataudienz seinen Wünschen Nachdruck verliehen.“
Nichtsdestotrotz gab es auch schon zu Lebzeiten Reissmüllers immer wieder Zweifel an seiner weißen Weste. Er sei doch NSDAP-Mitglied gewesen, hieß es dann. Sogar die Mitgliedsnummer war bekannt: 5.030.227. Er selbst hatte die Mitgliedschaft in seinem Entnazifizierungsverfahren eingeräumt, sich später allerdings auf einen angeblichen Irrtum berufen: Er habe seine Mitgliedskarte nie abgeholt, daher sei er formal gar kein NSDAP-Mitglied gewesen, sondern lediglich Anwärter.
Gegen Kritiker, die anderes behaupteten, klagte er. Er zog sogar bis vors Bundesverfassungsgericht – mit dem Ergebnis, dass er sich zumindest gefallen lassen musste, als ehemaliger Nazi bezeichnet zu werden. Theoretisch ist es möglich, dass Reissmüller seine Karte tatsächlich nie abholte. Dies als Akt des Widerstands zu verstehen, als welchen es Reissmüller später hinstellte, dürfte dagegen eher gewagt sein. Ohnehin hat das Detail der formalen Parteimitgliedschaft angesichts der neuen Faktenlage freilich massiv an Bedeutung verloren.
Ein zweifelhafter Persilschein
Eine Frage bleibt allerdings: die nach dem Wert von Reissmüllers Persilschein. Der Verleger hatte es nämlich schwarz auf weiß: Er war im Widerstand. So bekundete es zumindest nach dem Krieg der Diplomat Hans von Herwarth, ein entfernter Verwandter des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Von Herwarth, der mit Reissmüller an der Ostfront war, war in die Umsturzpläne eingeweiht. Später erklärte er, Reissmüller habe ebenfalls davon gewusst.
Inwieweit das Reissmüller zum Widerstandskämpfer macht, sei dahingestellt. „Wenn man sich die Verschwörung vom 20. Juli ein bisschen genauer ansieht“, so Schuler, „dann merkt man schnell, dass viele davon wussten, aber deshalb noch keine Mitverschwörer waren. Die haben abgewartet, wie die Sache ausgeht, und wollten hinterher einfach auf der richtigen Seite stehen. So würde ich auch Reissmüller einschätzen – als Opportunisten.“ Schuler zitiert auch den 2023 verstorbenen Stauffenberg-Biografen Peter Hoffmann, der nach eigenem Bekunden nie etwas von einem Wilhelm Reissmüller gehört hat.
Bezeichnend ist auch, dass Reissmüller selbst sich stets bedeckt hielt, was seine angebliche Rolle im Widerstand anging, und lediglich auf von Herwarth verwies. Und darauf, dass er sich dafür eingesetzt habe, die Straße, an der das Verlagshaus gelegen ist, nach Stauffenberg zu benennen. Lange Zeit gab man sich damit in Ingolstadt zufrieden.
Reissmüller wurde aber nicht nur von der Stadt geehrt. Auf Vorschlag des jeweiligen bayerischen Ministerpräsidenten wurden ihm 1969 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1977 das Große Bundesverdienstkreuz und 1986 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern verliehen. Auch das Pendant des Freistaats, den Bayerischen Verdienstorden, hat er erhalten. Im Schloss Bellevue macht man sich über eine symbolische Entziehung des Ordens allerdings keine Gedanken. Zwar könne einem Geehrten das Bundesverdienstkreuz aberkannt werden, wenn unwürdiges Verhalten der Person bekannt werde, teilt das Bundespräsidialamt auf Anfrage der taz mit, posthum sei dies allerdings nicht möglich. Das regle das Ordensgesetz, da könne man nichts machen. Tatsächlich habe es früher Verleihungen gegeben, die heute undenkbar seien: „Die Geschichte der Ordenspraxis spiegelt damit gewissermaßen die Geschichte der frühen Bundesrepublik mit ihrer verzögerten Aufarbeitung von NS-Unrecht.“ Die bayerische Staatskanzlei indes ließ die entsprechende Anfrage zu einer möglichen Entziehung des Bayerischen Verdienstordens unbeantwortet.
Im Ingolstädter Stadtrat wird man sich vermutlich Ende Februar mit dem Antrag zur Aberkennung von Reissmüllers Ehrenbürgerwürde befassen. Eine eigene Mehrheit haben die Antragsteller nicht. Aber Grünen-Stadträtin Agnes Krumwiede, die selbst auch zu belasteten Ingolstädtern recherchiert, ist „verhalten optimistisch“, dass bis dahin die Zahl der Befürworter noch wächst.
Zumindest beim Donaukurier ist man indes schon mal tätig geworden: Ein beeindruckendes Schwarz-Weiß-Porträt des Ex-Verlegers, das bis Anfang Dezember einen Gang in der Redaktion schmückte, wurde in den Keller verfrachtet.
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