Entgleiste Ordnungshüter in Tunesien: Angst vor Terror schafft Terror
Polizisten erschossen zwei junge Frauen, die von einer Hochzeit kamen, aus Angst vor Terroristen. Auch die Toten fürchteten Terroristen.
TUNIS/BERLIN taz | An einer Straßensperre im tunesischen Kasserine, nahe der algerischen Grenze, sind eine 21-jährige Deutsch-Tunesierin und ihre tunesische Cousine von der Polizei erschossen worden. „Sie kamen von einer Feier und wollten die Polizeisperren umfahren, als plötzlich auf einer holprigen Straße schwarz gekleidet Männer aus dem Gebüsch sprangen und den Wagen stoppen wollten“, sagt Aziza Balhoumi, die Tante, der in Bonn lebenden Ahlem, die getötet wurde.
Aziza Balhoumi, steht in Kontakt zu Fahrerin des Wagens, der Deutsch-Tunesierin Jasmin. Sie überlebte. Die Straßensperre der Polizei hielten die jungen Leute zunächst für eine Falle von Terroristen und fuhren weiter. Als sie aus Angst nicht sofort angehalten hätten, sagt Azia Balhoumi der taz, eröffnete die Zivilpolizei das Feuer.
„Sie trafen die 21jährige Ahlem in den Kopf. Sie starb sofort. Auch ihre 18jährige Cousine, Ons, wurde tödlich getroffen. Ein weiteres Mädchen in dem mit sieben Personen besetzten Wagen wurde verletzt.“ Der Fall müsse untersucht werden, fordert Aziza Balhoumi. „Immer werden die Opfer zu Tätern gemacht. Die brutale Wahrheit wird verschleiert“, sagt sie.
Nach Angaben des tunesischen Innenministeriums gab die Polizei Lichtsignale und Luftschüsse ab, bevor sie letztendlich auf das Fahrzeug zielten. Zeugen erzählen, die Polizisten hätten den Mädchen keine Erste Hilfe geleistet und seien einfach weggefahren. Dazu gab die Regierung keinen Kommentar ab. Sie spricht von einem Unfall.
Zwei Monate vor der Parlamentswahl sind die Themen Sicherheit und Terror in Tunesien in aller Munde. Ein riesiges Plakat in Tunis zeigt eine Tunesierin in Habachtstellung – ein „Gruß des tunesischen Volkes an unsere Polizeikräfte und unsere Armee“ – mit dem Slogan „Nein dem Terrorismus“. Die Kampagne wurde im Juli vom Verband der Werbeagenturen gestartet, um die Tunesier und Tunesierinnen gegen die „terroristische Bedrohung“ zu mobilisieren. Terrorangst geht um in Tunesien.
Der tragische Tod der 21-jährigen Deutsch-Tunesierin und ihrer Cousine bringt die Unfähigkeit, die Angst und die Unsicherheit der Sicherheitskräfte ans Licht. In der Region um Kasserine im Westen Tunesien ist die Lage angespannt. Einheiten des Militärs und der Polizei bekämpfen hier seit mehr als einem Jahr eine Gruppe von radikalen Islamisten, die sich im Chaâmbi Gebirge aufhalten.
In Kasserine stehen Soldaten und Polizisten unter permanenter Spannung. Es mangelt an Ausrüstung und Training. Am 16. Juli wurden 15 Soldaten von den „Terroristen“ ermordet.
Schweigen zum Wohl des Landes
Erst zwei Jahre nach der Revolution begann die damals von der islamischen Partei Ennahdha geführte Regierung auf die Drohung zu reagieren und segnete härtere Maßnahmen gegen radikale Islamisten ab. Als die technokratische Übergangsregierung im Januar 2014 feierlich eingesetzt wurde, erklärte Premierminister Mehdi Jomâa Sicherheit zu seiner „obersten Priorität“.
Während sich Anfang 2014 noch 150 Moscheen außerhalb jeglicher Staatskontrolle befanden, sind es heute nur noch 25. Diversen Medien wurden wegen angeblicher Unterstützung der Extremisten und Aufrufen zur Gewalt die Veröffentlichung von Informationen untersagt. Die Regierung liefert sich mit nationalen Medien eine Wettstreit um die Berichterstattung über Sicherheitsangelegenheiten. „In diesen Zeiten des Kampfes gegen den Terror” sei es Aufgabe der Medien, „das übergeordnete Wohl des Landes” zu berücksichtigen, erinnerte das Innenministerium letzte Woche.
Schon im Juli hatte die Regierung „Personen, Gruppen, Parteien oder Institution“, die Sicherheitskräfte „anschwärzen“, mit strafrechtlicher und militärischer Verfolgung gedroht.
Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit
Nach dem Tod der zwei jungen Frauen in Kasserine blieb das Medienecho dementsprechend gering. Tageszeitungen berichteten von einem „Unfall“ und zitierten ausgiebig eine Stellungnahme des Innenministeriums.
„Vor dem besonderen Hintergrund der aktuellen Situation erinnern wir an die Notwendigkeit, Anweisungen der Polizeikräfte immer Folge zu leisten”, heißt es unter anderem in der Stellungnahme.
Das Fehlverhalten wird nirgends hinterfragt. Das Innenministerium hat keine offizielle Ermittlung eingeleitet. „Nach jedem polizeilichen Fehlverhalten sucht die Sicherheitsmaschinerie eine Rechtfertigung“, stellt Amna Guellali, Direktorin von Human Rights Watch Tunesien fest. „Der Sicherheitsdiskurs hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt“.
Vor kurzem bemängelte Human Rights Watch Tunesien das willkürliche Verbot von 157 zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Am nächsten Tag zeigte eine Karikatur der Tageszeitung Essabah „eine NGO, die sich der Gefahr nicht bewusst ist“. „Wir sind weit vom ägyptischen Szenario entfernt, aber die psychologische Vorbereitung ist erkennbar“, meint Amna Guellali.
Im Kampf gegen die schweren Drohungen sucht Tunesien heute die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Die zweiten Wahlen nach der tunesischen Revolution sind für den 26. Oktober geplant. Bürger und Medien befinden sich in Habachtstellung.
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