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Entführungen sind tägliches Geschäft

■ In Tschetschenien spitzt sich die Lage wieder zu. Rußlands neuer Premier Stepaschin will das Problem mit Gewalt lösen

Moskau (taz) – Die vierjährige Lena wiegt noch zehn Kilogramm. Ihr Körper ist übersät mit Blutergüssen und Prellungen. Acht Monate hatten Entführer Lena Meschcheriakowa in der Kaukasusrepublik Tschetschenien festgehalten. Letzte Woche kehrte das Mädchen zur Mutter in die Nachbarrepublik Nordossetien zurück. Wer hinter dem Verbrechen steckt, blieb ein Geheimnis. Die Botschaft indes war eindeutig: In Tschetschenien regieren Brutalität und gnadenlose Kaltblütigkeit.

Der Vorwurf ist nicht unberechtigt. Tschetschenien droht an den sozialen Folgen des 1996 siegreich beendeten Krieges zu implodieren. Die Arbeitslosigkeit liegt bei weit über 70 Prozent. Vertriebene kehren nicht in ihre Dörfer zurück, weil mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Bergregion noch vermint ist: „Ein Krieg nach dem Krieg“, klagt Ruslan Aslanow, Bürgermeister von Bamut. „Uns fehlen Mittel und Fachleute, um das Gebiet zu säubern.“ Vor dem Krieg arbeiteten Tschetschenen als Saisonarbeiter noch in Rußland und anderen GUS-Staaten. Inzwischen ist das kaum noch möglich. Der russische Nachbar schikaniert Tschetschenien mit allen erdenklichen Mitteln, während die Behörden in Grosny sich weigern, den eigenen Bürgern russische Pässe auszustellen. De jure gehört die Republik weiter zur Russischen Föderation. Die Kriegsparteien einigten sich 1996, den Status der Republik endgültig bis 2001 zu klären. Seither hat die soziale Not den Menschenhandel zu einer der Haupteinnahmequellen werden lassen.

Seit Ende Mai, als russische Hubschrauber ein Guerillacamp in den tschetschenischen Bergen unter Beschuß nahmen, spitzt sich die Lage zu. Mitte des Monats erschossen Freischärler sieben Soldaten des Innenministeriums in Dagestan und im Gebiet Stawropol. Die Russen schlugen zurück. Aus der Luft vernichteten sie einen Konvoi von 15 mit 200 Freischärlern bemannte Lkws. Danach schloß Moskau sechzig der etwa siebzig Grenzübergangsstellen zu Tschetschenien und machte zwei Millionen Rubel locker, um die Grenzanlagen zu befestigen.

Offenkundig versucht Rußlands Premier Sergej Stepaschin das Problem erneut mit Gewalt zu lösen, und prophezeite, tschetschenische Freischärler würden Rußland in diesem Jahr mit einer Terrorwelle überziehen. Letzte Woche entdeckte ein Mitarbeiter im Innenministerium zufällig eine Bombe, die jedoch rechtzeitig entschärft werden konnte.

Glaubt man den Aussagen Moskaus, steckt hinter dem Ganzen der aus Jordanien stammende tschetschenische Feldkommandeur Chattab. Er gehört der islamisch-fundamentalistischen Sekte der Wahhabiten an, die seit einigen Jahren in den tschetschenischen Bergen Jugendliche auf den Dschihad vorbereitet. Versuche des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, Chattab aus seiner Republik zu verbannen, schlugen fehl. Den größten Zulauf genießen die Wahhabiten in der Republik Dagestan, wo die Sekte mittlerweile 10.000 aktive Mitglieder und 30.000 Sympathisanten zählt. In ihrer Hochburg Buinaksk in Dagestan haben die Wahhabiten die Staatsgewalt als Ordnungsmacht bereits verdrängt. Dennoch scheint die einseitige Schuldzuweisung Moskaus fadenscheinig, mit der sich bequem jede gewaltsame und antikonstitutionelle Handlung rechtfertigen läßt.

Hätte der Kreml am Tag, nachdem die kleine Lena befreit wurde, beschlossen, militärisch gegen Grosny vorzugehen, wäre ihm der moralische Rückhalt der Bevölkerung sicher gewesen. Statt dessen reiste Stepaschin nach Dagestan und demonstrierte den Herrschaftsanspruch des Zentrums. Fast zeitgleich brachten die Abgeordneten der Duma einen Gesetzesentwurf ein, der Verfassungsrechte einschränkt und Kosaken in den südlichen Grenzregionen mit Polizeikompetenzen ausstattet. Der Kaukasus bleibt ein Pulverfaß und Moskau der Sprengmeister. Klaus-Helge Donath

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