Entführung durch Islamisten 2014: Die Schattenmädchen von Nigeria
Vor acht Jahren entführte Boko Haram 275 Schülerinnen. Bis heute bewegt deren Schicksal das Land – auch weil viele weiter verschwunden sind.
Es geschah in der Nacht zum 15. April 2014. 275 Schülerinnen bereiteten sich in ihrem Internat, der Chibok Girls State Secondary School, auf ihre Prüfungen vor, als Boko-Haram-Kämpfer auftauchten. Sie gaben sich als Sicherheitspersonal aus, das für den Schutz der Mädchen sorgen solle. Die Schülerinnen willigten ein, ihre Schlafsäle zu verlassen und die wartenden Lastwagen zu besteigen. Das Ziel der Männer war aber nicht die Sicherheit der Mädchen, sondern der Sambisa-Wald an der Grenze zu Kamerun, in dem Boko Haram seine Basen hatte.
47 Mädchen konnten noch während der Entführung oder kurz danach fliehen; andere kamen in Austauschaktionen frei. Die Massenentführung unterstrich die Schwäche der nigerianischen Armee. Der Fall trug 2015 auch zur Wahlniederlage von Expräsident Goodluck Jonathan gegen den bis heute regierenden Muhammadu Buhari bei.
Über die Jahre hat Boko Haram immer wieder Mädchen im Austausch gegen gefangene Kommandanten angeboten. Aber bis heute bleiben 96 Mädchen verschwunden. Die christliche Organisation Open Doors fordert mehr Anstrengung von Präsident Buhari, um auch die verbleibenden Geiseln aus der Hand von Boko Haram zu befreien.
Elf Frauen – sie sind keine Mädchen mehr – kamen seit Juni dieses Jahres frei. Alle sind jetzt Mütter; eine von ihnen hat vier Kinder. Sie alle waren Opfer von sexualisierter Gewalt und Zwangsverheiratung an ihre Geiselnehmer. Ihre Dorfgemeinschaften tun sich nun schwer damit, die von den Freigelassenen mitgebrachten Kinder der Terroristen anzunehmen.
In einer Hilfseinrichtung in der Stadt Maiduguri werden einige dieser Kinder und ihre Mütter versorgt. Rejoice Senki, eine der zuletzt befreiten Geiseln, erzählt, wie sie in der Gewalt von Boko Haram mehrfach vergewaltigt, dann zwangsverheiratet und zum Islam zwangskonvertiert wurde. „Sie machen mit dir, was sie wollen, wenn du nicht machst, was sie sagen“, erzählt die zweifache Mutter.
Kampf um Akzeptanz zu Hause
Die Freigelassenen finden ihre alte Heimat nicht so wieder, wie sie sie kannten. Manche mussten lernen, dass ihre Eltern nach Jahren der Trauer und Depression mittlerweile tot sind. Die Aktivistengruppe „Bring Back Our Girls“ berichtet von zahlreichen Todesfällen: „Man muss sich um die Eltern kümmern“, sagt Allen Manasseh von der Gruppe, der zugleich Sprecher der Chibok Development Association ist, die sich um die Entwicklung des Ortes der Geiselnahme kümmert.
Über zwanzig Eltern seien bereits an Komplikationen im Zusammenhang mit Bluthochdruck und Nierenversagen gestorben, sagt er, herbeigeführt durch das angstvolle Warten auf ihre Töchter. Jahrelang wussten die Eltern nicht, ob ihre Kinder überhaupt noch am Leben waren. Es gibt Berichte über mehrere Todesfälle von Chibok-Mädchen in der Geiselhaft. Andere sollen von Boko Haram als Selbstmordattentäterinnen in den Tod geschickt worden sein.
Chibok war kein Einzelfall. In Nigeria hat es seitdem weitere Massenentführungen durch islamistische Gruppen gegeben. 2018 stürmte der sogenannte Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der sich von Boko Haram abgespalten hatte, eine Schule in Dapchi im Bundesstaat Yobe und entführte 110 Schülerinnen.
Ein Mädchen starb, die anderen kamen innerhalb eines Monats wieder frei – bis auf die damals 14-jährige Leah Sharibu, die sich angeblich weigerte, zum Islam überzutreten. Während Sharibu zum Symbol des Widerstands gegen die radikalen Islamisten wurde, erklärte ISWAP, man beabsichtige, sie als „Sklavin auf Lebenszeit“ zu behalten.
Nigerias Regierung hat erklärt, sie werde „nicht nachlassen in unseren Bemühungen, Leah Sharibu sicher nach Hause zu holen“. Präsident Buhari hatte die Wahl 2015 mit dem Versprechen gewonnen, den islamistischen Aufstand in Nordostnigeria zu beenden. 2019 wurde er wiedergewählt. Bereits mehrfach hat er Boko Haram für besiegt erklärt und Angriffe der Gruppe haben tatsächlich abgenommen. Das liegt allerdings auch an internen Zerwürfnissen, was auch zum Selbstmord des Anführers Abu Mohammed Abubakar al-Shekau führte. Er beging Suizid, als ISWAP versuchte, ihn festzunehmen.
Im Februar wird in Nigeria gewählt. Buhari tritt nach zwei Amtszeiten nicht erneut an. Das Schicksal derjenigen, die sich noch immer in der Gewalt von Boko Haram befinden, dürfte auch bei seinem Nachfolger ganz oben auf der Agenda stehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei