Entdeckung der Autorin Diane Oliver: Das stille schwarze Kind

Sechs Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod werden die Kurzgeschichten der Autorin Diane Oliver entdeckt. Sie beschreiben den Alltag im Rassismus.

Porträt der Autorin Diane Oliver

Als einzige Schwarze beim Schreibkurs in Iowa: Diane Oliver Foto: privat

Man kann nicht anders, als darüber zu staunen, wie jung diese Autorin gewesen ist. Am 21. Mai 1966 starb Diane Oliver bei einem Verkehrsunfall, das war einen Monat, bevor sie bei dem Schreibkurs in Iowa, den sie als eine von sehr wenigen schwarzen Frauen besuchte, Exa­men machen konnte und zwei Monate vor ihrem 23. Geburtstag. Der Schreibkurs verlieh ihr postum noch einen Preis. Dann wurde Diane Oliver vergessen.

Bis – und jetzt beginnt eine Art literarisches Märchen – die britische Literaturagentin Elise Dillsworth auf ihren Namen stieß und neugierig wurde. Bei der Schwester Diane Olivers und ihrer Nichte fand sie einen Stapel Manuskripte. Sie sind jetzt auf Deutsch zu entdecken.

Gleich die erste, der Sammlung ihren Titel gebende Geschichte „Nachbarn“ führt einen tief hinein in die sechziger Jahre in den Südstaaten der USA. Die Bürgerrechtsbewegung ist längst aktiv, der Name Martin Luther King fällt in dem Band ausdrücklich, doch die Segregation ist noch nicht überwunden; es ist die Zeit, in der die ersten Schwarzen Schüler auf Schulen gehen, die bis dahin für Weiße reserviert waren.

Man darf sich diese Kurzgeschichten nun aber keinesfalls nur als eine Art Geschichtsunterricht vorstellen. Interessant bis heute sind sie vor allem, weil Diane Oliver konsequent auf die individuelle Ebene geht. In der Story „Nachbarn“ lässt sie, erzählerisch geschickt, die Zweifel, Sorgen und Skrupel innerhalb einer Familie aufscheinen, deren Sohn Tommy ausersehen ist, als erstes Schwarzes Kind auf eine bis dahin rein weiße Schule zu gehen.

Diane Oliver: „Nachbarn“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg. Aufbau Verlag, Berlin 2024. 304 Seiten, 24 Euro

Die Geschichte hat etwas nahezu Klassisches. Die Schwester des Schülers wird als Reflektorfigur eingeführt. Wir folgen ihr am Vorabend des Schulbesuchs, wie sie keine Lust hat, noch mehr über ihre Familie in der Zeitung zu lesen. Sie begegnet einem Nachbarn, der sagt: „Ich glaub nicht, dass sie ihm was tun“ und gleich ergänzt: „Hoffentlich macht’s ihm nichts aus, wenn sie ihn anspucken.“ Dann wird der vollkommen verängstigte Tommy zu Bett gebracht. Ihm wird „Onkel Wiggily im Zoo“ vorgelesen.

Ambivalenzen im Bewusstsein

Später unterhalten sich Vater und Mutter. Der Vater sagt: „Ich versuche mir einzureden, dass jemand der Erste sein muss, aber dann fällt mir wieder ein, wie still er die ganze Woche war.“ Das ist eine der Stellen, an der man zu ahnen meint, wie sehr diese Autorin an die Fähigkeit der Literatur geglaubt hat, das Besondere und das schillernd Ambivalente von Situationen festzuhalten.

Der Familie werden in dieser Geschichte die Fenster mit Steinen eingeschmissen. Doch mehr noch als Empörung über ungerechte gesellschaftliche Zustände zu erzeugen, liegt es Diane Oliver daran, die Ambivalenzen im Bewusstsein der Figuren zu beschreiben, bis einem dieser still gewordene Junge beim Lesen unter die Haut kriecht.

In manchen der Geschichten passiert nicht viel mehr, als dass die alltäglichen Sorgen rund um Kinderversorgung und Armut geschildert werden, aber es gibt dabei immer einen interessanten erzählerischen Dreh. In der Geschichte „Gesundheitsdienst“ muss eine junge Mutter zum Arzt gehen und dabei, weil sie keine Betreuungsmöglichkeiten hat, alle ihre Kinder mitnehmen. Die Arzthelferin ist herrisch, die anderen Wartenden desinteressiert, nur eine Frau hilft ihr mit den Kindern – aber sie wird keineswegs als sympathisch geschildert, sie stellt nämlich auch viele Fragen, die der Mutter ein schlechtes Gewissen machen.

In „Stau“ kommt der Mann, der in den Norden der USA gegangen ist, um dort zu arbeiten – der Norden ist in diesem Band sowieso so etwas wie das gelobte Land –, zurück zu seiner Frau in den Süden. Sie freut sich. Nur hat der Mann, obwohl „es ihnen an allem anderen fehlte“, alles Geld für einen alten Ford ausgegeben. Diane Oliver findet dazu, wie an anderen Stellen auch, einen schlichten, leuchtenden Satz: „Die Scheinwerfer schienen ihr Grimassen zu schneiden.“

Eun dunkles Märchen

Es gibt in dem Band auch irritierende Geschichten. In „Kein Service hier“ bringt eine im Wald wohnende Schwarze Familie ganz lakonisch geschildert alle Weißen um, die sie in ihrer selbstgewählten Abgeschiedenheit besuchen. Die Geschichte hat die Anmutung eines dunklen Märchens.

Andere Geschichten verlassen den Realismus. In „Die Kammer im obersten Stock“ verliert Winifred, die von ihren Eltern als einzige Schwarze auf ein Internat geschickt wird, den Realitätsbezug, bis die Geschichte sich ins Surreale wendet und das Mädchen schließlich in einem größeren Schrank haust.

Man vermutet beim Lesen, dass Diane Oliver hier auch ihre eigenen Gefühle im Schreibkurs in Ohio beschreibt. Dabei kommen nicht nur die weißen Mitschülerinnen schlecht weg, sondern auch Winifreds Eltern, die sie aus politischen Gründen auf dieses College geschickt haben. „Sie war es leid, das Experiment zu sein“, heißt es gleich zu Beginn. Doch ihre Eltern haben keinen Sinn für diese Gefühle.

Auch in „Vor der Dämmerung“ beschreibt Diane Oliver Generationenkonflikte innerhalb der Schwarzen Community. Hier sind es die Jungen, die gegen die Segregation angehen wollen, indem sie sich in ein nur Weißen vorbehaltenes Café setzen, was aber bei ihren eigenen Eltern auf Unverständnis stößt.

Vor der Radikalisierung

Nicht nur an dieser Stelle fragt man sich, wie sich diese Autorin wohl entwickelt hätte, wenn sie länger gelebt hätte. Diese Geschichten sind vor der Radikalisierung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geschrieben, und es kann gut sein, dass Diane Oliver ihre Wut über die Verhältnisse nicht mehr ganz so subtil sublimiert hätte, wie sie es in diesen Geschichten tut.

Bestimmt hätte sie auch literarisch weiter mit Erzählhaltungen experimentiert. In der Erzählung „Gefrorene Stimmen“ tut sie es schon in dieser Sammlung. Mit Satz­wie­der­ho­lun­gen wirft sie hier eine avancierte rhythmische Sprachmaschine an, die einen an Elfriede Jelinek denken lässt.

Still werdende Kinder, gefrorene Stimmen – Diane Oliver zeichnet eine Gesellschaft, in der es, wie es an einer Stelle heißt, „viele Veränderungen“ gibt, die aber auch erst einmal psychisch verarbeitet werden müssen. Auch deshalb – und keineswegs nur, weil viele der gesellschaftlichen Probleme bis heute virulent sind – sind diese Geschichten weiterhin relevant. Durch diese Sammlung wird die amerikanische Literatur um eine weitere Stimme reicher.

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