Englands Ostküste in Zeiten des Brexit: Fisch macht nicht mehr satt
Grimsby hatte einmal 650 Fischkutter. Heute ist der Hafen fast leer. Der Brexit wird nicht helfen, das zu ändern, glaubt Fischhändler Boyers.
150 Jahre lang hat Grimsby, eine Stadt mit 88.000 Einwohnern an der Mündung des Flusses Humber an der Ostküste Großbritanniens, mit dem Fisch und durch den Fisch gelebt. Boyers ist der letzte seiner Familie. Eine seiner Töchter ist Anwältin, die andere studiert Medizin, der Sohn arbeitet als Kranführer.
Seit Jahrzehnten sinkt die Bedeutung der Fischerei – in Grimsby und in Großbritannien. Die britische Unabhängigkeitspartei Ukip hatte die Fischerei zu einem Thema ihrer Brexit-Kampagne gemacht. Mit dem EU-Austritt könnten die Briten die Quoten loswerden, mit denen die EU regelt, wer wie viel Fisch fangen darf. Sie könnten die Kontrolle über die eigenen Gewässer zurückerlangen, so das Versprechen. Fast 70 Prozent der Einwohner Grimsbys stimmten für den Brexit.
„So einfach ist das nicht. Es wird nicht funktionieren“, meint Martyn Boyers, der an diesem Nachmittag schon dunkle Ringe unter den Augen hat. Seit halb fünf ist er auf den Beinen. Er leitet den Grimsbyer Fischmarkt, der Anfang der neunziger Jahre als Genossenschaft neu gegründet wurde, seit 15 Jahren. Ein Kilo Kabeljau kostet 2,80 Pfund, Schellfisch gibt’s für 1,60 Pfund.
Kutter dicht an dicht
Boyers Büro liegt im Hafen, unweit des Dock Tower, der wie ein Minarett über der Stadt aufragt. Einst beherbergte er die Hydraulik für die Hafeneinfahrt, heute ist er nur noch ein Wahrzeichen. Ende der fünfziger Jahre war Grimsby der größte Fischereihafen der Welt mit einer Flotte von 650 Trawlern. „Heute haben wir noch 20 Trawler und der Hafen hat die gleiche Größe“, sagt Boyers.
Am Kai, wo die Fischkutter einst Bug an Bug lagen, so dicht, dass man von einem Ende der Kaimauer zum anderen über die Rümpfe laufen konnte, haben an diesem Nachmittag nur zwei Schiffe festgemacht. „Es war ein langsamer Niedergang über fast 50 Jahre“, erzählt Boyers. Und er begann nicht, wie viele Brexiter glauben, mit dem EU-Beitritt Großbritanniens 1973, sondern mit der Überfischung der Meere und dem darauf folgenden Wandel der Tiefseefischerei. Im Streit um Fischereirechte setzte sich Island Anfang der siebziger Jahre gegen Großbritannien durch und erweiterte sein Hoheitsgebiet. Als „Kabeljaukriege“ gingen die Auseinandersetzungen in die Geschichte ein.
Margaret Haessig aus Grimsby
Zwar werden auch heute noch jährlich 17.500 Tonnen Fisch im Grimsby verarbeitet. Boyers hat die Zahlen im Kopf. „Aber 95 Prozent davon kommen hier auf Lastwagen an.“ Der Fisch stammt aus Island und Norwegen. Nur 5 Prozent werden von heimischen Trawlern in britischen Gewässern gefangen. Aber dafür könne man nicht die EU verantwortlich machen, meint Boyers und guckt ernst.
„Wir werden nach dem Brexit nicht zu den guten alten Zeiten zurückkehren, als der Fischfang frei für alle war. Als wir nach Island oder Norwegen fuhren und so viel Fisch fingen, wie ins Boot passte.“ Irgendeine Form von Kontrolle werde es auch nach dem EU-Austritt geben. „Wir können ja keinen Zaun durch die Nordsee bauen, so wie Trump durch Amerika.“
Die Melancholie von Morrisey
„Every day is like Sunday, every day is silent and grey“, sang Morissey in den achtziger Jahren mit klagender Stimme über eine englische Küstenstadt. Es könnte Grimsby sein, es könnten viele andere Städte sein. Die arbeitsintensiven Industrien brachen in den achtziger Jahren nach und nach weg, und die boomende Finanzindustrie bevorzugt London als Hauptsitz. Grimsby ist weit weg vom hippen London, weiter, als die 140 Meilen vermuten lassen. Es ist weiß und englisch. Nur wenige Menschen sind auf der Flusspromenade unterwegs, die vom Hafen ins Stadtzentrum führt.
„Als ich jung war, war Grimsby eine blühende Stadt. Sehr viele Menschen, meist waren es Männer, arbeiteten auf den Trawlern und den Fischdocks“, erzählt Margaret Haessig, die in Grimsby vor fast siebzig Jahren geboren wurde. „Ticklers produzierte Marmelade, es gab eine Schuhfabrik und jede Menge Geschäfte“, schwelgt Haessig im Früher. „Die Freeman Street, die heute so heruntergekommen ist, war eine pulsierende Einkaufsstraße. Der Fisch hat uns alle ernährt. Das hat sich geändert, weil die Fischerei den Bach runterging“, schließt Haessig, die neben ihrem Mann auf dem Sofa in ihrer Doppelhaushälfte sitzt.
„Und es hat sich geändert, weil die Kinder zur Universität gehen und nicht mehr wiederkommen und weil die Unternehmen ihrer Eltern nicht mehr existierten“, ergänzt Mary Randall mit resoluter Stimme. So wie ihre Freundin Margaret hat sie viele Jahrzehnte Grundschulkinder in Grimsby unterrichtet. „Jedes Jahr wurden an die 400 bis 500 Kinder eingeschult. Wir hatten früher 40 Kinder in einer Klasse. Das war normal. Und heute kommt gerade noch eine Klasse zusammen und wenn sie 26 Kinder hat, denken sie schon, das sei viel.“ Mary Randall und Margaret Haessig müssen lachen.
„Erziehungsurlaub hätte es ohne EU nicht gegeben“
Mary hat Tee und eine Schale mit Keksen auf den Wohnzimmertisch gestellt. Sie hat gegen den Brexit gestimmt, genau wie ihre Freundin. Sie sind pensioniert, weiß, englisch – statistisch die typischen Brexit-Befürworter. „Die EU hat Großbritannien moderner gemacht“, meint Margaret. „Erziehungsurlaub und so etwas, das hätte es ohne die EU gar nicht gegeben.“
Im Wohnzimmer der Haessigs reden sie noch über den Brexit. In Marys Bridge-Runde oder bei Freunden ist das Thema tabu. „Wir haben mit unseren Freunden so heftig gestritten, dass wir irgendwann aufgehört haben, darüber zu reden“, sagt Beat Haessig. „Es waren zu viele Gefühle im Spiel.“
Der Schweizer Haessig, der am Grimsbyer College Vorlesungen über europäisches Recht gehalten hat und dessen Vornamen Beat die Engländer manchmal wie Schlag, „Beat“, aussprechen, betrachtet das Referendum aus der Distanz des Zugezogenen. „Es ging beim Brexit nicht um die EU. Die Menschen, die für den Austritt stimmten, wollten eine Veränderung. Sie waren nicht zufrieden. Mit dem politischen System, mit den Politikern, mit ihrem Leben.“
Die EU grüßt vom Museum
Der EU begegnet man in Grimsby nur in Form einer ramponierten Tafel, die in die Außenmauer des Fischereimuseums eingelassen ist. „Die EU-Abgeordneten oder die Politiker, die eigentlich wollten, dass wir in der EU bleiben, haben sich hier nie sehen lassen“, klagt Mary. „Schreiben Sie: Die Politiker haben uns im Stich gelassen.“
Im Stich gelassen von der Politik fühlen sich auch die Bewohner Hulls auf der anderen Seite des Humber. Knapp 20 Meilen und der Fluss trennen die beiden Städte, doch weil es keine regelmäßige Busverbindung gibt, braucht man fast zwei Stunden mit dem Zug hinüber. Auch Hull hat eine große maritime Vergangenheit und ist gebeutelt vom industriellen Wandel. Hull ist in diesem Jahr die Kulturhauptstadt Großbritanniens. Fragt man nach der Beziehung zur Hauptstadt London, erzählt Ian Kelly die Geschichte von der Brücke. Kelly, ein schwergewichtiger Mann, leitet die örtliche Handelskammer. Er serviert Cookies, gefüllt mit einem Schuss Brandy. „Der wärmt.“
Die Brücke also: Die Stadt hatte sich zur Vorbereitung der Kulturhauptstadt von der Regierung in London eine Brücke vom Stadtzentrum zum Yachthafen erbeten. 15 Millionen Pfund sollte sie kosten. Doch das Geld war nicht aufzutreiben. Dann lasen sie in der Zeitung, dass London eine neue Brücke über die Themse plant, eine Gartenbrücke mit Bäumen, 25 Millionen Pfund seien bereits bewilligt. „Die haben Dutzende Brücken über die Themse und wir kriegen nicht mal eine simple, um unser Stadtzentrum als Kulturhauptstadt richtig anzubinden“, beschwert sich Kelly.
Strukturwandel auf dem Wasser
Tim Rix blickt optimistischer in die Zukunft. „Ich sehe viele Möglichkeiten. Wir hören sicher nicht auf, Geld auszugeben.“ Rix, ein lokaler Unternehmer, hat für den Brexit gestimmt. „So wie jeder hier im Unternehmen.“ Er führt ein Firmengeflecht mit einem Umsatz von 500 Millionen Pfund jährlich in fünfter Generation, angefangen hatten JR Rix and Sons als Schiffbauer und Reeder. Rix’ Büro erinnert dementsprechend an ein Museum. Auch heute noch unterhält Rix eine Flotte, darunter drei Öltanker, deren Besatzungen allesamt aus Polen bestehen, und fünf Schiffe, die Menschen und Material zu den Windparks vor der Küste transportieren.
Die Windparks sind ein noch junger Industriezweig an der Humber-Mündung. Energieriesen wie Dong Energy und Eon haben sich hier angesiedelt, Siemens produziert Rotorblätter. Nach dem Referendum hatte Siemens angekündigt, das Werk wie geplant auszubauen. „Wir haben alle hart gearbeitet in Hull, um Siemens hier anzusiedeln“, sagt Rix. „Als Siemens kam, war das sicher nicht das Ende unserer Probleme, aber der ökonomische Niedergang war erst einmal gestoppt.“
Martyn Boyers im Hafen von Grimsby hat immer ein Fernglas griffbereit. Er schaut gern über das Hafenbecken. Vom Balkon seines Büros kann man die Windräder draußen auf dem Meer mit bloßen Augen sehen, genauso wie die Boote, die sie versorgen. „Hier, nimm mal“, sagt er. „Dort ist das Überwachungsboot, das gelbe ist das Boot von windcat und die roten sind von Eon.“ Im Hafen gibt es mittlerweile fast so viele Windparkversorger wie Fischkutter. Immer noch zu wenige, doch Boyers glaubt an seine Stadt. „Es ist nicht Fisch. Es ist etwas ganz anderes. Aber es ermöglicht dieser Region, sich zu verändern, sich anzupassen.“ Er lächelt. Obwohl er gegen den Brexit gestimmt hat, sieht Boyer gelassen in die Zukunft. „Dieses Land ist zäh genug, den Brexit zu überstehen.“
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