Ende des Zweiten Weltkriegs am 2. Mai: Sieg über Fanatismus und Fantasie
An den Wänden stehen Durchhalteparolen. Die Berliner suchen Schutz in U-Bahnhöfen. Am 2. Mai 1945 erobert die Rote Armee die Hauptstadt Nazideutschlands.
I n den frühen Morgenstunden des 2. Mai 1945 hängt eine dichte Staubwolke tief über der Stadt. Sie schimmert bald orangefarben, bald zitronengelb. „Wie eine Staubwolke in der Sahara, wenn der Schirokko weht“, erinnert sich Johannes Hentschel. Seine Augen beginnen zu tränen, der Sand knirscht zwischen den Zähnen. Seit Tagen haben sich Qualm und Staub über dem Stadtinnern ausgebreitet, aus den Trümmerlandschaften Berlins in die Luft gewirbelt. So dicht, dass selbst mittags das Sonnenlicht kaum mehr durchdringt.
Um die Reichskanzlei herum ist es ruhig an diesem Morgen. Hentschel hört Gefechtslärm nur aus der Ferne. Noch ist die „Zitadelle“, wie der innerste Verteidigungsbereich rund um die Reichskanzlei im Regierungsviertel genannt wird, nicht von der Roten Armee erobert. „Es krachte von Zeit zu Zeit. Gewehrfeuer, gelegentlich Granatwerfer, ab und zu eine Leuchtrakete oder der Schein einer Leuchtpistole. Aber keine schweren Geschütze. Keine Stalinorgeln, keine rumpelnden Panzer. Keine Flugzeuge. Dauernd flogen Stockenten in geschlossener Formation vorüber, wie Messerschmitts.“
In der Nacht hatte eine große Gruppe von Leuten aus dem inneren Zirkel der Naziführung unter Leitung von SS-Brigadeführer Wilhelm Mohnke den Führerbunker verlassen und den Ausbruch gewagt. Es sind zwanzig Männer und vier Frauen. Mohnke führte unter anderem die Sekretärinnen und die Diatköchin Hitlers durch U-Bahnschächte Richtung Norden. Doch dann werden sie gestoppt. „Auf die Russen waren wir gefasst; auf die BVG allerdings nicht“, erzählt Mohnke im Sommer 1974 den Journalisten Uwe Bahnsen und James P. O’Donnell. Hundert Meter vom Bahnsteigende des U-Bahnhofs Friedrichstraße entfernt, stößt die Gruppe auf ein eisernes Schott, das von zwei Männern der Berliner Verkehrsbetriebe bewacht wird. Die Forderung Mohnkes, das Schott zu öffnen, lehnen sie ab.
„Mit großem Pflichteifer erklärten sie uns, das Schott werde jeden Abend, nachdem der letzte Zug durchgefahren sei, geschlossen, um den Tunnel vor Wassereinbrüchen aus Bomben- und Granatenlöchern in der Decke zu sichern – wir befanden uns direkt unter der Spree. Zwar sei der Zugbetrieb eingestellt, aber sie hätten eben ihre Anweisungen, denen sie folgen müssten.“ Mohnke dreht um.
Cheftechniker Hentschel ist der letzte Mensch, der den Führerbunker an diesem Morgen verlässt. Auch er hat seine Erinnerungen den beiden Journalisten aufs Band gesprochen. Man kann darüber rätseln, was Hentschel dazu gebracht hat, den Flug von Enten mit dem von deutschen Jägern zu vergleichen, als er sich knapp dreißig Jahre später an diesen Morgen erinnerte. Auf einem vor dem Krieg gedruckten Werbeplakat hatte es geheißen, die Messerschmitt-Jäger und -Zerstörer der Bayerischen Flugzeugwerke „siegen und schützen Deutschland“. Die in großer Zahl produzierten Messerschmitts waren eine von den alliierten Piloten gefürchtete Waffe. Eine Zeit lang sah es so aus, als würden die Messerschmitts den Kampf um England für sich entscheiden.
Die deutsche Luftwaffe hat aber inzwischen längst die Lufthoheit auch über Berlin verloren. Es fliegen keine Messerschmitts mehr oben im Himmel, nur noch Enten. Cheftechniker Hentschel hat entweder aus alter Gewohnheit in der cool-militaristischen Diktion der Nazijahre diesen Vergleich gewählt – oder er war sich der Ironie seiner Metapher bewusst. Zum ersten Mal hatten die Sirenen die Berliner am 1. September 1939 vor Luftangriffen gewarnt. Seit 1943 griffen die Bomber regelmäßig an. Tagsüber waren es die Flugzeuge der United States Army Air Force, nachts die Maschinen des Bomber Command der Royal Air Force. Viele Nächte verbrachten die Berliner seitdem in Luftschutzkellern.
Seit dem 20. April, als Hitler im Führerbunker zum letzten Mal Geburtstag feiert, wird die Berliner Innenstadt von sowjetischer Artillerie beschossen. Gegen 12 Uhr mittags heulen die Sirenen Panzeralarm. Am nächsten Morgen fliegen amerikanische Luftwaffenverbände den letzten strategischen Bombenangriff auf Berlin. Zwei Tage später fährt auch die letzte U-Bahn-Linie nicht mehr.
Am Vormittag des 2. Mai 1945, einige Stunden nach dem Flug der Entenformationen über die verlassene Reichskanzlei, ordnet General Helmuth Weidling die sofortige Einstellung jeglichen Widerstands an. Weidling hat den Tod des „Führers“ abgewartet, der ihn vor wenigen Wochen aufgrund eines Missverständnisses erst zum Tod verurteilt, dann zum Befehlshaber des Verteidigungsbereichs von Berlin ernannt hat. Seinen Kapitulationsbefehl leitet Weidling mit der Nachricht vom Verrat Hitlers ein: „Am 30. April hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der sowjetischen Truppen fordere ich euch auf, sofort den Kampf einzustellen.“
800 Sowjetpanzer zerstört
Für viele zeitgenössische Beobachter ist an diesem Tag der Zweite Weltkrieg in Europa vorbei, auch wenn vereinzelt in Berlin noch bis zum 4. Mai gekämpft wird und das Deutsche Reich erst am 8. Mai kapituliert. Die Rote Armee hatte die Reichshauptstadt in relativ kurzer Zeit eingenommen. Die Führungsriege des nationalsozialistischen Deutschland war tot oder aus der Stadt geflohen.
Stefan Doernberg zweifelt nicht daran, dass der Krieg in diesen Stunden zu Ende geht. 21 Jahre alt ist der Leutnant der Roten Armee am 2. Mai 1945. Zehn Jahre zuvor hat er Berlin verlassen, weil sein Vater Jude und Kommunist war. Jetzt fährt Doernberg zusammen mit dem Adjutanten von General Weidling im Lautsprecherwagen durch die Straßen Berlins und liest dessen Befehl vor. Kurz zuvor hat Stefan Doernberg diesen selbst mit einer Schreibmaschine abgetippt und sich über die merkwürdige Ausdrucksweise des Generals gewundert. Als Doernberg durch die Straßen der durch die Häuserkämpfe noch stärker als zuvor zerstörten Stadt fährt, beginnt die Nachkriegszeit.
Die von der NS-Propaganda bis zuletzt proklamierte große „Schlacht um Berlin“ hat nicht stattgefunden, meinten Bahnsen und O’Donnell dreißig Jahre später. „Die ausgebluteten deutschen Kampftruppen, die unerfahrenen Volkssturm- und Alarmeinheiten, schlecht bewaffnet und munitioniert, waren überhaupt nicht in der Lage, den Eliteverbänden Marschall Schukows eine Schlacht zu liefern.“ Trotzdem starben schätzungsweise Hunderttausend auf beiden Seiten im Häuserkampf; 800 Panzer soll die Rote Armee bei der Eroberung Berlins eingebüßt haben. Stalin trieb seine Generäle an. Er wollte den schnellen Erfolg, um den 1. Mai auch als Sieg über Nazideutschland feiern zu können.
Der Befehl zu Verteidigung Berlins hatte diese Schlacht vorab als ein Heldenstück beschrieben, in dem eine spezifisch deutsche Mischung aus „Fanatismus und Fantasie“ am Ende siegen würde. Der „Kampf um Berlin“ werde nicht in offener Feldschlacht ausgetragen, sondern ein Straßen- und Häuserkampf werden, kündigte der „Grundsätzliche Befehl für die Vorbereitung zur Verteidigung der Reichshauptstadt“ vom 9. März an.
Der Kampf müsse „mit Fanatismus, Fantasie, mit allen Mitteln der Täuschung, der List und Hinterlist, mit vorbereiteten und aus der Not des Augenblicks geborenen Aushilfen aller Art auf, über und unter der Erde geführt werden.“ Dem Feind dürfe keine Minute Ruhe gegönnt werden, „er muss sich in dem engmaschigen Netz der Widerstandsnester, Stützpunkte und Verteidigungsblocks verzehren und verbluten“. Verlorenes Terrain müsse sofort wieder erobert werden. „Voraussetzung für eine erfolgreiche Verteidigung Berlins ist jedoch, dass jeder Häuserblock, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Hecke, jeder Granattrichter bis zum Äußersten verteidigt wird!“ Dieser Befehl bleibt bis zu Weidlings Kapitulation in Kraft. Die Klügeren unter den Verteidigern Berlins, unter denen sich einige Tausend Mann des „Volkssturms“, Kinder, Jugendliche, ältere Männer befinden, halten sich nicht daran.
Am 22. April erscheint die erste von acht Ausgaben der Zeitung Der Panzerbär. So heißt das jeweils vier Seiten starke „Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins“. Die Titelzeile an diesem Tag lautet: „Adolf Hitler: Berlin bleibt deutsch!“ Sieben Tage später, in der letzten Ausgabe, heißt es unter der Überschrift „Heroisches Ringen“, „bei Tag und Nacht“ würden „neue Eingreifkräfte herangeführt“.
Aus dem Führerhauptquartier gibt das Oberkommando der Wehrmacht bekannt: „In dem heroischen Kampf der Stadt Berlin kommt noch einmal vor aller Welt der Schicksalskampf des deutschen Volkes gegen den Bolschewismus zum Ausdruck.“ Es wird aber auch gemeldet, dass im inneren Verteidigungsring der Feind vom Norden her in Charlottenburg und von Süden her über das Tempelhofer Feld eingedrungen sei. „Am Halleschen Tor und am Alexanderplatz hat der Kampf um den Stadtkern begonnen.“ Die Berliner werden außerdem darüber informiert, dass die Alliierten die Donau überquert haben: „An der Donau brach der Feind in Regensburg und Ingolstadt ein. Zwischen Dillingen und Ulm setzten die Amerikaner ihren Vorstoß nach Süden fort.“
Ein fernes, aber ein reales Ziel
Ein Kommentar erklärt den Panzerbär-Lesern unter der Überschrift „Der längere Atem“, dass man zwar den Krieg verloren habe, aber trotzdem nicht aufgeben solle: „Zu verlieren haben wir nichts mehr. Wir haben alles verloren und würden durch Kapitulation uns selbst, unsere Zukunft, Frau und Kind preisgeben. Wohl aber haben wir die Chance, uns zu behaupten und einst dann Existenz, Familienleben und unseren sozialen Staat wieder aufzubauen, in dem wir einen noch größeren Wohlstand erreichen werden, als wir ihn vor diesem Krieg bereits genießen konnten. Das ist ein fernes, aber ein reales Ziel.“
Das kann man als Programm für die Nachkriegszeit lesen, an dem sich viele Nationalsozialisten erfolgreich orientierten. Das sogenannte Wirtschaftswunder, unter anderem durch die Arbeit von Millionen von Zwangsarbeitern vorbereitet, gibt ihnen recht. Ein halbe Million Menschen musste während des Kriegs Zwangsarbeit in Berlin leisten. Am Ende des Kriegs befinden sich immer noch viele in der Stadt.
Warum wird überhaupt in der Stadt gekämpft? Weil sich die Befehlshaber der Wehrmacht nicht gegen ihren Oberbefehlshaber Hitler durchsetzen können. Generaloberst Heinrici von der Heeresgruppe Weichsel, die eine Front 70 Kilometer östlich von Berlin halten soll, wird am 19. April die Stadt unterstellt. „Heinrici, der eine Schlacht in Berlin unter allen Umständen vermeiden wollte, versuchte nun, die in der Stadt noch verfügbaren, kampfkräftigen Truppen aus dem Verteidigungsbereich herauszubringen und in die östlichen Schutzstellungen zu verlegen. Das gelang ihm aber nur zu einem Teil“, schreiben Bahnsen und O’Donnell. Am 22. April, dem Tag, als die erste Panzerbär-Ausgabe erscheint, wird die Verteidigung Berlins dem Befehl Hitlers unterstellt.
Im Tagebuch des Ordonnanzoffiziers Walter Kroemer von der Panzerdivision Müncheberg heißt es am 25. April: „Die Division baut am Alex wieder ab. Rückmarsch unter Fliegerangriffen zum Halleschen Tor. Schwere Verluste. An den Häuserwänden Aufschriften: ‚Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste Stunde‘ und ‚Wir gehen zurück, aber wir siegen‘.“
Einen Tag später haben sowjetische Truppen der 1. Belorussischen Front unter Marschall Schukow und der 1. Ukrainischen Front unter Marschall Konjew die Stadt vollständig eingeschlossen. Der Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht meldet: „Im Südteil der Reichshauptstadt toben schwere Straßenkämpfe in Zehlendorf, Steglitz und am Südrand des Tempelhofer Feldes. Im Osten und Norden leisten unsere Truppen, tapfer unterstützt von Einheiten der Hitlerjugend, der Partei und des Volkssturms, am Schlesischen und Görlitzer Bahnhof sowie zwischen Tegel und Siemensstadt erbitterten Widerstand. Auch in Charlottenburg ist der Kampf entbrannt.“
Nein, der war es nicht
In Zehlendorf wird Diplomlandwirt Georg Schulze am selben Tag von den Sowjets zum Bezirksbürgermeister ernannt und mit der Wiedererrichtung der Verwaltung beauftragt. Da die Soldaten der Roten Armee viele Uhren rauben, wird im Bezirk Zehlendorf nun täglich morgens um 8 Uhr die Kirchenglocke geläutet. Sie gibt auch das Ende der anfangs auf die Zeit von 18 bis 8 Uhr festgesetzten nächtlichen Ausgangssperre an. Während in der Stadtmitte noch gekämpft wird und Zehntausende von Berlinern in Kellern, Bunkern und unter anderem in den beiden unterirdischen Bahnhöfen am Potsdamer Platz Schutz gesucht haben, verteilen anderswo bereits Sowjetsoldaten Brot an die Bevölkerung.
Soldaten der Roten Armee vergewaltigen vor und nach dem 2. Mai viele Berlinerinnen. Leonard Buchow, 1925 geboren, damals Panzersoldat der Roten Armee, erinnerte sich später: „Es war sicher so, dass es zu Vergewaltigungen kam. Noch vor dem Überqueren der Oder wurde uns ein Befehl Schukows vorgelesen, in dem es hieß, mit Zivilisten muss man human umgehen. Auf Vergewaltigungen und Plünderungen stand die Erschießung. Ich hatte immer Mitleid mit Frauen, die geschändet wurden: mit Russinnen, Polinnen, Jüdinnen und anderen. Diese unglücklichen Frauen hatten die Misshandlungen der Besatzer zu ertragen. Ihr Schmerz und ihre Scham machen es notwendig, dass man das nicht vergisst.“
Hertha von Gebhardt berichtet in ihrem Tagebuch, das sich im Landesarchiv Berlin befindet, von einer Vergewaltigung. Ein sowjetischer Soldat hat Frau K. mitgenommen. „Jemand ist zur nahen Kommandatur gelaufen und hat Beschwerde geführt. Ein Offizier kommt, erwischt den Mann, der eben Frau K. zurückgebracht hat, fragt sie: War es der? Der Mann ist zu Tode erschrocken, er weiß, es kann nunmehr ihn das Leben kosten. Frau K., ohne mit der Wimper zu zucken, sagt: Nein, der war es nicht. – Er hat vielleicht auch Frau und Kind zu Hause, meint sie nachher, soll ich ihn da ums Leben bringen?“
Anna hisst die Rote Fahne
Am 30. April werden auf dem Reichstag Rote Fahnen gehisst, eine davon von Anna Wladimirowa Nikulina. Die Majorin hat gehört, dass die Deutschen die Federn für ihre Betten in rote Bezüge füllen. Auf ihre Weisung wird roter Stoff requiriert, die Federn sind den Eigentümern zurückzugeben. Sie hisst ihre rote Fahne auf dem Dach des Reichstags, während im Keller noch gekämpft wird. Den internationalen Kampftag der Arbeiterklasse und den Sieg gegen den Nationalsozialismus feiern Soldaten der Roten Armee tags darauf auf dem Wörther Platz, der ab 1947 Kollwitzplatz heißt.
Aber nicht nur dort und nicht nur an diesem Tag wird der Sieg gefeiert: „Im Park wurden Tische aufgestellt, mit einem Eimer wurde Wein aus der Kellerei einer Weinfabrik geholt, die in der Brunnenstraße lag“, erinnerte sich Leonard Buchow. „Diese Kellerei hatten wir schon drei Tage zuvor entdeckt, als wir eine Schlange Berliner mit Eimern sahen. In dem dunklen Keller begegneten sich russische Soldaten und Deutsche. Aus den Riesenfässern floss der Wein, die Menschen liefen knöchelhoch im Wein. Solche Beispiele der ‚friedlichen Zusammenarbeit‘ gab es öfter.“ Hertha von Gebhardt schrieb dazu in ihr Tagebuch: „Die Plünderung der Geschäfte hat eingesetzt. Es plündern keineswegs die Russen – vielleicht diese da und dort auch –, sondern im wesentlichen die Volksgenossen.“
Am 8. Mai wird im Standesamt von Charlottenburg die erste Ehe nach Kriegsende geschlossen. Das Brautpaar hat wegen der rassistischen Nürnberger Gesetze vorher nicht heiraten können.
Verkehrsregeln beachten!
Am 4. Juli 1945 rücken die westlichen Alliierten als Besatzungsmächte in Berlin ein, James O’Donnell ist als Journalist dabei. Zwei Wochen zuvor hat die Polizei bei einer ihrer ersten großen Razzien gegen den schwarzen Markt 429 Personen verhaftet. Der Schlag trifft die Schwarzhändler in der Mulack- und der Gormannstraße in Mitte. Ebenfalls im Juli dringt der Polizeipräsident von Berlin in einer Bekanntmachung darauf, die Verkehrsregeln zu beachten. Damit sind insbesondere Fußgänger und Fahrradfahrer angesprochen, die mehrheitlich regellos die Fahrbahn benutzen, wie es in der Chronik der Stadt heißt.
James Preston O’Donnell wurde am 30. Juli 1917 in Baltimore, Maryland geboren. Er studierte in Harvard und begann als Journalist zu arbeiten. Als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, diente er im U.S. Army Signal Corps, also bei den Fernmeldern. Wenige Wochen nach Kriegsende wurde er aus dem Militärdienst entlassen und zum Chef des Deutschlandbüros von Newsweek ernannt.
Der 4. Juli 1945 ist ein heißer, schwüler Tag. O’Donnell soll die Umstände von Hitlers Tod erforschen und über das Schicksal von Eva Braun recherchieren. Noch am Tag seiner Ankunft verschafft er sich Zugang zum Führerbunker, indem er den beiden wachhabenden Sowjetsoldaten zwei Schachteln Zigaretten zusteckt. „Mit Taschenlampen suchten wir den Weg hinunter in den Führerbunker. Unten stand der Fußboden zum Teil unter Wasser; Ratten huschten umher. An den Wänden und Decken sah man Brandspuren. In den engen Zimmern und Gängen lagen überall noch Akten, Dokumente, Formulare und andere Schriftstücke herum; dazwischen rostige Pistolen, Bücher, Schallplatten, Flaschen, Gläser.“
Als er aus dem Bunker wieder ans Tageslicht steigt, hat O’Donnell einen Stapel Papiere unter dem Arm und ein Thema gefunden, das ihn bis ins Alter nicht loslässt. Zusammen mit dem deutschen Journalisten Uwe Bahnsen, der 1934 in Hamburg geboren wurde, interviewt er viele der Überlebenden aus dem Bunker in der Wilhelmstraße. Die beiden Journalisten fügen die Gespräche mit der Entourage des Führers zu einem detaillierten Bild zusammen. Ihr Buch „Die Katakombe. Das Ende in der Reichskanzlei“ erscheint 1975.
Stadtbahn und Mauerfall
Vier Jahre später, im Januar 1979, veröffentlicht James O’Donnell in Reader’s Digest einen Artikel über „Die Geisterzüge von Berlin“. Er widmet sich darin der Geschichte der Berliner S-Bahn. 1870 begann der Bau, nur zwölf Kilometer Strecke sollten anfangs entstehen. In den 1920ern sind auf dem Schienennetz der Stadtbahn 700 elektrische Züge unterwegs, die an jedem Werktag 1,7 Millionen Fahrgäste befördern.
Während des Zweiten Weltkriegs fährt die Stadtbahn scheinbar unaufhaltsam weiter, bis die Rote Armee am 21. April 1945 das letzte intakte Kraftwerk der Stadt besetzt. Jetzt werden die Tunnels von Stadt- und U-Bahn zu den letzten Zufluchtsorten vieler Innenstadtbewohner, von denen manche über Tage hinweg, in der Dunkelheit der Bahnhöfe auf Gleisen sitzend, ausharren. Die „Gruppe Ulbricht“ ist im Windschatten der Roten Armee in Berlin eingetroffen und nimmt bereits am 2. Mai 1945 ihre Tätigkeit auf.
Vier Jahre später hat im Osten Deutschlands die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands unter Walter Ulbricht das Sagen. Bald aber wollen die Sowjets ihn wegen seiner nicht nur ideologisch, sondern objektiv falschen Politik stürzen. Ulbricht, meint das Moskauer Politbüro, versteht die Unterschiede zwischen Russland und dem ökonomisch weiterentwickelten Deutschland nicht. Statt die vorhandenen gesellschaftliche Produktivkräfte sich entfalten zu lassen, lässt Ulbricht kollektivieren und dekretieren. Man hat schon beschlossen, dass Ulbricht abgesetzt werden soll, als ihm die aufständischen Arbeiter von der Stalinallee ironischerweise zu Hilfe kommen. Bis Ulbricht die Mauer bauen lässt, haben 2,6 Millionen Menschen den antifaschistischen Staat der Arbeiter und Bauern verlassen. Mindestens eine Million von ihnen sind mit der S-Bahn nach Westberlin geflohen, schreibt James O’Donnell.
Seine Hommage an die Berliner Stadtbahn aus dem Jahr 1979 schließt der Historiker und Journalist mit einer Vision: „Neulich träumte ich vom Ende der Berliner Mauer. Es war im Jahr 1989. Überall erschienen Ost- und Westberliner in hellen Scharen und rissen sie nieder. Schüler bepflanzten die ganzen 165 Kilometer mit Linden und Eichen. Pfiffige Händler schlängelten sich durch die fröhliche Menge und verkauften Steine zum Andenken. Wie gelangten so viele Menschen so schnell an die Mauer? Mit der S-Bahn, versteht sich.“
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