: Eltern erziehen
Kinderärzte und Polizei fordern ein „Bündnis für Erziehung“, um Gewalt gegen Kinder zu verhindern
BERLIN taz ■ Fünf bis zehn Prozent aller Kinder in der Republik werden misshandelt oder sexuell missbraucht, klagt die Berufsvereinigung der deutschen Kinder- und Jugendärzte. Verbandschef Klaus Gritz forderte gestern in Berlin Maßnahmen, um die „beängstigende Kette der Gewalt zu durchbrechen“.
Die Erfahrungen in den Praxen haben gezeigt: 95 Prozent der Kinder sind Daueropfer – bei jedem zehnten Kind mit tödlichem Ausgang. 2.000 Fälle schwerer Misshandlungen im Jahr 1994, 16.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch 1996 seien bekannt geworden, berichtete der Chefkinderarzt. Eingedenk der Dunkelziffer „müssen wir aber mit dem 20-fachen rechnen“, so Gritz.
Die Gewaltbereitschaft steigt, Opfer und Täter werden immer jünger. Als Grund sieht der Mediziner die schleichende Übernahme von Gewalt als „normalem Lebensinhalt“. Brutalität im Fernsehen, überfordere Eltern, und die eigenen Erfahrungen legten den Grundstein: „80 Prozent aller misshandelten Kinder werden später ihre eigenen Kinder misshandeln“, meint Gritz.
Arbeitslosigkeit der Eltern und geringe Bildung beschleunigen nach einer Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer die Gewaltspirale. Als Konsequenz regte der Stuttgarter Polizeipräsident Martin Schairer gestern zusammen mit dem Ärzteverband ein „Bündnis für Erziehung“ an.
Schulen, Sozialarbeiter, Polizei und Kinderärzte sollten enger zusammenarbeiten. Die Kinder könnten schon „vom Kindergarten an zu guter Elternschaft erzogen“ werden, findet Schairer. Auch die Schulen müssten als Erzieher in die Pflicht genommen werden. Die Kinderärzte selbst sehen sich in einer „Schlüsselposition“. Ihr Beruf ermöglicht es, die Folgen der Gewalt zu erkennen und als Vertrauenspersonen mit Schweigepflicht auf die Eltern einzuwirken.
Nicht mit härteren Jugendstrafen, sondern mit einer Erziehungsoffensive will man also an die Wurzel der Gewalt gehen. Die Forderungen an die Politik sind moderat und betreffen eher den Bereich des Jugendschutzes. Das geplante Verbot familiärer Gewalt sei „ein richtiges Signal“, so Schairer. Als nächstes, so die Bitte an die Regierung, sollten brutale Filme endlich ins Nachtprogramm verbannt werden.
GUNNAR MERGNER
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