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Elke Twesten und andere ParteiwechslerDas Hin und Her der Hinterbänkler

Meist werden sie mit Kusshand genommen: Politiker, die zum politischen Gegner überlaufen. Eine kurze Geschichte der Fraktionswechsel.

Nicht nur im niedersächsischen Landtag werden immer mal wieder neue Verbindungen geknüpft Foto: dpa

Berlin taz | Seit dem Wochenende prangt ihr Konterfei an unzähligen Laternenmasten in Berlin. „Erststimme Canan Bayram“ steht groß auf den Plakaten. In ihre Kandidatin setzen die Grünen große Hoffnungen: Sie soll im Bundestagswahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg die Nachfolge Hans-Christian Ströbeles antreten. Dass Bayram seit mehr als zehn Jahren ohne Unterbrechung dem Berliner Abgeordnetenhaus angehört, dürfte dabei ihren Chancen nicht gerade abträglich sein. 2006 zog sie das erste Mal in das Landesparlament ein – für die SPD. Im Mai 2009 wechselte sie zu den Grünen. Ihr Mandat behielt sie.

Fraktionswechsel hat es in der bundesrepublikanischen Geschichte immer wieder gegeben. Allerdings hatten sie nur selten solch gravierende Auswirkungen wie der Übertritt der niedersächsischen Grünen Elke Twesten Ende vergangener Woche zur CDU. Auch Bayrams Wechsel blieb seinerzeit folgenlos, zumal nur ein paar Tage später die Abgeordnete Bilkay Öney die Grünen in Richtung SPD verließ und damit das alte Kräfteverhältnis wieder hergestellt war.

Nach Twestens Seitenwechsel ist nun viel von „Verrat“ und einer „Verfälschung des Wählerwillens“ die Rede. Lautstark fordern Grüne und SPD ihren Mandatsverzicht. Das ist verständlich, ist es doch für beide Parteien äußerst bitter, dass eine Hinterbänklerin ihre Koalition in Hannover kippt.

Allerdings ist die rot-grüne Empörung wohlfeil. Denn wie für alle Parteien gilt auch für SPD und Grüne: Zur Mandatsrückgabe werden immer nur die aufgefordert, die nicht gerade in die eigene Fraktion wechseln. Und zwar völlig unabhängig davon, ob das jeweilige Mandat nun direkt oder über eine Landesliste errungen wurde. So fand die SPD Forderungen nach einem Mandatsverzicht von Dora Heyenn, die bei der letzten Hamburger Bürgerschaftswahl noch als Spitzenkandidatin der Linkspartei angetreten war und Mitte Juli ihren Wechsel in die SPD-Fraktion bekannt gab, völlig abwegig.

Zur Mandatsrück­gabe wird nur aufgefordert, wer ins andere Lager wechselt

Nicht immer zahlten sich die Wechsel aus

Auch Oskar Helmerich nahm die SPD mit Kusshand. Der 57-jährige Rechtsanwalt war 2014 über die Liste der rechtspopulistischen AfD in den Thüringer Landtag gewählt worden. Im April 2016 nahm ihn die SPD-Landtagsfraktion auf. Für die rot-rot-grüne Koalition war das ein Glücksfall. Denn ein Jahr später wechselte mit Marion Rosin eine SPD-Abgeordnete zur CDU. Ohne Helmerich hätte Linkspartei-Ministerpräsident Bodo Ramelow jetzt keine Mehrheit mehr im Landtag.

Dass Fraktionswechsel wirklich ein politisches Erdbeben ausgelöst haben, ist allerdings schon einige Jahrzehnte her: Weil sie die Ostpolitik Willy Brandts ablehnten, verließen zwischen Oktober 1970 und April 1972 drei Bundestagsabgeordnete die SPD sowie vier die FDP und schlossen sich der CDU/CSU-Fraktion an. Da noch drei weitere Abgeordnete der Koalition ihr das Vertrauen entzogen, verlor die sozialliberale Regierung ihre Parlamentsmehrheit.

Im Wissen um weitere Abweichler innerhalb der Koalition, wagte die Union daraufhin den Versuch, Brandt per konstruktivem Misstrauensvotum zu stürzen. Das scheiterte zwar – wie man heute weiß dank der tatkräftigen Unterstützung des DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Trotzdem sah Brandt keine anderen Ausweg mehr als vorgezogene Neuwahlen. Die gewann die SPD im November 1972 überraschend mit dem besten Ergebnis ihrer Geschichte.

Für die Union hatten sich die Fraktionswechsel also nicht ausgezahlt – übrigens anders als für die abtrünnigen Sozial- und Freidemokraten, die von der CDU oder der CSU großzügig mit neuen Mandaten versorgt wurden.

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