Elektronische Musik aus Afrika: Avantgarde und Piraterie
Africa goes electronic: Neue Alben mit Hochzeitsmusik vom sudanesischen Keyboarder Jantra und die Modularsynthese von Afrorack aus Uganda.
Wann waren Sie zuletzt auf einem Polterabend, dessen Musik nachhaltig verzauberte? Wo die Junggesellinnen und -gesellen nicht zu Salzsäulen erstarrt ins Bierglas schauen, sondern auf dem Dancefloor herumwirbeln wie Derwische und selbst notorische Heiratsmuffel erstaunt aufhorchen. Alle werden elektrisiert von einer hypnotischen Musik, deren tiefes Verständnis für zischelnde und tänzelnde Rhythmen zu Herzen geht. Deren fliehende Rhythmen zwischen 155 und 168 Bpm die Erde zum Beben bringt; uptempo ist dieser Sound, aber scheinbar ohne Bestimmtheit vorwärtstreibend, einzig um den Tonkaskaden und endlos improvisierten Melodien maximale Bewegungsfreiheit zu garantieren.
Die schnellen Beats werden im Sudan „Seyra“ oder „Sera“ genannt, der Musikstil nennt sich Jaglara, was im sudanesischen Arabisch allgemein als Bezeichnung für Improvisation steht. Dank des Hamburger Labels Ostinato erklingt Jaglara-Sound nun erstmals auf dem Album „Synthesized Sudan: Astro-Nubian Electronic Dance Sound from the Fashaga Underground“. Hier wird zwar Extraterrestrisches suggeriert, die Musik kommt aber einzig und allein vom bodenständigen sudanesischen Keyboarder Jantra. Als Solist spielt Jantra auch so virtuos auf wie ein ganzes Hochzeitsorchester.
Al-Fashaga heißt die abgelegene ländliche Region, in der Jantra lebt und aufgewachsen ist. Sie liegt im südöstlichen Grenzgebiet zwischen Sudan und Äthiopien, unweit von Eritrea, abseits der gängigen Durchgangsrouten. Hoheit auf das Gebiet beanspruchen sowohl Sudan als auch Äthiopien. In der Zeit nach der sudanesischen Unabhängigkeit von England, 1956, kam es immer wieder zu Landstreitigkeiten. Erst 1995 einigten sich die Anrainer, dass äthiopische Bauern das Land bewirtschaften und der Sudan die Verwaltung übernimmt. Dieser Kompromiss endete mit dem Tigraykonflikt 2020. Auch jetzt im sudanesischen Bürgerkrieg sei es hier zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Kämpfern der beiden Länder gekommen, meldet Wikipedia.
Jaglara ist upfliftend
Jaglara Musik von Jantra klingt weder angriffslustig noch kriegerisch, es ist ein zutiefst upliftender, ja heiterer und friedfertiger Sound, entstanden bei Hochzeitspartys in seiner Heimatstadt Gedarif. Westliche Ohren glauben eine entfernte Verwandtschaft zur nordafrikanischen Tanzmusik und den arabischen Tonskalen zu hören. Der Senegalese Janto Djassi Koité, einer der beiden Betreiber von Ostinato, dementiert: „Jaglarasound hat wenig gemein mit anderen lokalen oder regionalen Musikstilen. Jantra hatte in seiner Jugend auch kaum Berührung mit der Außenwelt, er ist vor allem mit dem Klang von Fashaga aufgewachsen.
Jantra: „Synthesized Sudan. Astro-Nubian Electronic Jaglara Dance Sounds from the Fashaga Underground“ (Ostinato)
Afrorack: „The Afrorack“ (Hakuna Kulala/Morr Music/Indigo)
Als Künstler ist er sehr verbunden mit dem Fleckchen Erde, von dem er stammt. Man könnte sogar sagen, Jaglaramusik speist sich aus den fruchtbaren Böden von Fashaga.“ Ob das auch erklärt, warum die zehn Tracks auf dem Album nach seinen Töchtern, seiner Frau und anderen Verwandten von Jantra benannt sind?
Songs im herkömmlichen Sinne komponiert Jantra gar nicht, er freestylt, wie es in den Linernotes zum Album heißt. Die Aufnahmen, die Ostinato bei insgesamt sieben Besuchen vor Ort getätigt hat und die zum Teil auf älteren eigenen Aufnahmen des Künstlers basieren, sind gemeinsam von den Labelmachern mit Jantra editiert. Aus langen Improvisationen haben sie Hybridversionen zusammengesetzt oder Langfassungen eingedampft.
Customisierter Synthesizer
Ländliche Folktraditionen hin oder her, er benutzt für seine Musik einen Yamaha-Synthesizer. Der Synthie ist nach seinen Vorstellungen customisiert. Die Einstellungen des Yamaha-Synthesizers sind vom Hersteller auf westliche Klangvorstellungen maßgeschneidert. Jantra hat sein Instrument auf dem Markt von Omdurman nahe der sudanesischen Hauptstadt Karthum von Mechanikern so umprogrammieren lassen und hinterher weiter an der Klangpalette „feinjustiert“, bis die charakteristischen Jaglara-Melodiegirlanden entstehen konnten.
Die Anglistin Tsitsi Ella Jaji legt in ihrem Buch „Africa in Stereo“ anschaulich dar, wie konstitutiv Piraterie in Afrika für den Kultursektor funktioniert. „Piraterie ist eine Praxis des unautorisierten Kopierens und der alternativen Distributionswege, sie basiert auf informellen Ökonomien und umschifft die Logistik einer zentralisierten Kulturindustrie.“ Während wir bei Piraterie in Afrika zuerst an Schiffsentführungen vor der somalischen Küste denken und an kulturelle Rückständigkeit, beschreibt die in den USA lehrende Professorin, dass „Piratenlogik dabei verstehen hilft, wie experimentelle afrikanische Kulturtechniken funktionieren, die von der Kritik allzu oft übersehen wurden“.
Selbstverständlich gelingt im Internetzeitalter der Austausch zwischen europäischen und US-amerikanischen mit den afrikanischen Musikmärkten weit intensiver als früher. Hier sieht Jaji sogar eine Dialektik am Werk, denn wirkmächtige (angloamerikanische und französische) Vorbilder sind Wasser auf die Mühlen der eigenständigen afrikanischen Kulturmodelle, schreibt sie. Und durch die große afrikanische Diaspora im Westen klappt der Austausch inzwischen auch in die andere Richtung besser.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der ugandische Elektronikproduzent The Afrorack alias Brian Bamanya. Anders als Jantra, der einen Analogsynthesizer geentert und seine Sounds für seine Zwecke geändert hat, piratisiert Bamanya westliche Produktionsmethoden und Elektronik Know-how.
Improvisation mit Ersatzteilen
Sein bereits im vergangenen Jahr virtuell erschienenes gleichnamiges Debütalbum ist nun als physischer Tonträger weltweit erhältlich. The Afrorack gilt als ostafrikanischer Pionier, hat er doch für seine Musik Sounds kreiert, die aus einem eigenhändig programmierten Modularsynthesizer als Klangquelle abgezapft sind. Obwohl die Preise für Effektgeräte, Kabel und Musiksoftware in den letzten Jahrzehnten gesunken sind, musste Bamanaya aus Kostengründen improvisieren.
Er suchte bei Computer-Reparaturhändler in Kampala nach Ersatzteilen und brachte sich das Programmieren mithilfe von Online-Tutorials und Hacker-Know-how selbst bei. Seinen Oszillator hat Afrorack etwa aus Komponenten ausrangierter Computerlautsprecher zusammengebaut. Alle Effektgeräte und seine CV-Schnittstelle hat er selbst entworfen. Wer jetzt denkt, dass die Musik deshalb obskur klingt, sieht sich getäuscht. Es zwitschert, ziseliert und wabert nach Cutting-Edge-Art und trotzdem blitzen und blinken eigenständige Beats auf, wie sie zuletzt auch auf Produktionen aus Uganda und Tansania zu hören waren.
Afrorack bringt damit den Computer zum Singen. „Mein Modularsynth ist wie ein lebender Organismus. Ich muss Harmonie zwischen seinen Organen herstellen. Da fast alles aus Analogtechnik besteht, funzt nicht alles so, wie gedacht. Die Unschärfe kommt mir entgegen, denn ich rechne beim Musikmachen immer mit Überraschungen“, hat Afrorack dem Magazin PAM erzählt.
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