: Elektronisch altern
Nachtgedanken aus New York: Laurie Anderson sang in Berlin schmucklose Balladen über endzeitliche Engel
Die Bühne ist mit dunklem Stoff abgehängt, vorne stehen Keyboards, Schlagzeug und Verstärker. Aber wo sind im Konzertsaal der Berliner Hochschule der Künste die Videobeamer? Wo die Diaprojektoren? Und wer wird die Multimediatechnik bedienen? Früher war Laurie Anderson allein zwischen lauter Effekten: Playback hier, Trockeneis dort und Bildschirme überall. Mal tauchten Alltagsikonen und Amerikana auf, mal CNN-Montagen aus dem Golfkrieg – ein steter Kampf mit den Images. Irgendwann blieb vom ganzen Zeichentheater nur noch eine Tapete der Realität im digitalen Zeitalter übrig.
Damit ist Schluss. Heute hat sich die mittlerweile 54-Jährige Performerin/Songwriterin drei angenehm niedertourige Mitmusiker hinzugeholt, die mehr Soundsprengsel einwerfen, als dass sie richtig rocken würden: Sitzkissentechno für eine Generation, die von Andersons New-Wave-Feminismus in den 80er-Jahren angefixt wurde, dann ins subkulturelle Bildungsbürgertum abdriftete und nun allmählich alt geworden ist. Laut ist es trotzdem, ständig britzeln Samples in den Schaltkreisen, werden elektronische Bongos zum Regenprasseln über Manhattan oder zu Metallstanzen, die das frühe „X=X“ in minimalistische Blöcke zerlegen.
Zugleich hält Anderson es musikalisch neuerdings mit Balladen à la Joni Mitchell, die sie nicht länger durch den Stimm-Vocoder schickt, sondern anrührend aussingt. Manche mögen diese schmucklosen, dem „Nur für Erwachsene“-Radio zugewandten Songs nicht so sehr. Sie würden lieber „O Superman“ hören und bekommen auch kurz vor Schluss des Konzerts, wofür sie bezahlt haben. Überhaupt wirkt der Abend seltsam wohltemperiert, nur zu Beginn spricht Anderson davon, dass der Auftritt all denen gewidmet ist, die sich „mit Mut und Leidenschaft Gedanken machen über eine im Wandel begriffene Welt“.
Dass damit der 11. September gemeint ist, merkt man schon im zweiten Stück „Statue of Liberty“. Offenbar mochte Anderson nicht mehr recht an ihre Zeilen zur Freiheit glauben, von der sie im Original sang: „Not many people really want it.“ Jetzt ist daraus „so precious, so easy to lose“ geworden. Andere Kommentare zu den Ereignissen gibt es nicht, ohnehin geistern schon seit Jahren Engel und Katastrophen durch die Texte. Als sie schließlich Walter Benjamins Gleichnis vom Angelus Novus zur Brechtschen Moritat umformt, passt auch dieses bisschen Kitsch ins Konzept: Nachtgedanken aus New York.
HARALD FRICKE
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