Eisbaden: "Ich mags zweimal und dafür kurz"
Ursula Kawohl gilt vielen als Extremsportlerin. Die Vorsitzende der Berliner "Seehunde" geht schwimmen, wenn der See zugefroren ist.
taz: Frau Kawohl, der Winter war okay bisher, oder?
Ursula Kawohl: Ja, zweimal hatten wir schon Eis auf dem Orankesee. Dann hacken wir erst mal das entsprechende Loch, sodass wir reinklettern können. Wir haben eine Schwimmfläche von etwa drei mal drei Metern, die wir vom Eis befreien. Und wir klettern über eine Leiter rein.
Sie stehen dann mit der Axt auf dem Eis und hacken Löcher?
Die Berliner Seehunde sind ein Verein für Eis- oder Winterbader. Den Club gibt es seit den frühen 1980er Jahren, er gehört zur Sportgemeinschaft Bergmann-Borsig. Jeden Sonntag zwischen September und April schwimmen die etwa 70 Mitglieder im Orankesee. Die Seehunde sind einer der größten Eisbader-Clubs Deutschlands, das älteste Mitglied ist 77 Jahre alt.
Am ersten Weihnachtstag und an Neujahr treffen sich die Seehunde traditionell zum Baden. Am 12. Januar findet das Winterbaden in Berlin-Fest statt, eine Eisfaschingveranstaltung, zu der Schwimmer aus ganz Europa kommen. Wer Seehund werden will: Der Jahresbeitrag des Vereins beträgt 40 Euro. Man kann damit Teil einer recht exklusiven Community werden: Deutschlandweit geht man von etwa 2.000 bis 3.000 aktiven Eisbadern aus.
Ursula Kawohl, 60, ist seit 1986 bei den Berliner Seehunden. Sie ist Vereinsvorsitzende, lebte lange in Marzahn und wohnt heute in Wittenau.
Ja, das habe ich auch schon getan. Aber eigentlich machen das bei uns im Verein die Männer. Mit der Axt, mit der Eissäge oder mit dem Bohrer. In diesem Jahr war das Eis nur fünf Zentimeter dick, aber manchmal sind es ja auch 15 Zentimeter.
Wann geht Ihre Winterbadesaison los?
Unsere Saison beginnt, wenn die Freibäder schließen, also im September. Und wir beenden die Saison mit dem Abbaden, wenn die Freibäder wieder öffnen, gegen Ende April. Jeden Sonntag um 10 Uhr treffen wir uns am Orankesee in Hohenschönhausen. Das ist unser Trainingstag.
Wie war das letzte Training?
Gut! Wir hatten zwei Grad Wassertemperatur, und Eis war auch drauf.
Sind Sie Extremsportlerin?
Viele sehen es als Extremsport. Aber man gewöhnt sich ja an die kälteren Wassertemperaturen – ich selbst würde mich deshalb nicht als Extremsportlerin bezeichnen. Man sollte es auch nicht übertreiben, man darf nicht zu lange drinbleiben. Die meisten gehen einmal ins Wasser – ich mag’s lieber, zweimal reinzugehen und dafür kurz.
Was heißt kurz?
So zwei Minuten.
Wie lange ist es üblich?
Die meisten gehen einmal hinein, und dann fünf bis sieben Minuten.
Wie muss man sich den Ablauf am Trainingstag vorstellen?
Wir treffen uns kurz vor zehn. Dann mach’ ich meistens noch eine Ansage an die Vereinsmitglieder, welche Terminen anstehen oder ob jemand Geburtstag hat. Manche gehen vorher ein bisschen joggen oder walken, manche machen Gymnastik, manche machen gar nichts. Jeder nach seiner Fasson. Und um Punkt zehn geht’s ins Wasser. Wir betreiben keinen Leistungssport, wir machen Freizeitsport, der Spaß machen soll.
Wie alt sind Ihre Mitglieder im Schnitt?
Wir liegen so zwischen 40 und 70 Jahren. Wir sind überwiegend ältere Semester.
Würden Sie denn gern jüngeren Nachwuchs für Ihren Verein rekrutieren?
Gerne, ja. Aber das Interesse muss schon da sein. Man sollte schon sonntags um zehn zum Training erscheinen. Das ist für viele junge Leute ja noch mitten in der Nacht.
Zur Katerbekämpfung eignet sich das Eisbaden nicht?
Ob das dann so gut ist, weiß ich nicht. Aber im Ernst, wir hätten wirklich gern jüngere Mitglieder. Viele von uns sind noch Gründungsmitglieder aus den frühen 80er Jahren.
Baden Ihre Mitglieder immer nackt?
In der Regel schon. Außer an Weihnachten, an Neujahr und bei unserem Fest Mitte Januar, weil an den Terminen meist viele zuschauen. Wer es nicht mag, muss natürlich nicht nackt gehen. Wir tragen nur Badeschuhe und die Männer zum Teil Mütze, wenn sie nicht mehr so viele Haare auf dem Kopf haben. Handschuhe tragen auch manche, weil die äußeren Extremitäten am längsten brauchen, um wieder warm zu werden.
Und zu Ihrem Fest am 12. Januar kommen Eisbader aus ganz Europa?
Ja, aber am meisten aus den neuen Bundesländern, weil es da Tradition hat.
War das in der früheren DDR auch Teil der dortigen Freikörperkultur?
Nein, es war eigentlich von der Kinderzeitschrift Die Trommel ins Leben gerufen worden, das war die Pionierzeitschrift. Denen ging es um Abhärtung – und irgendwann fing es in Stralsund und Lubmin bei Greifswald an, dass die Leute gemeinsam winterbaden gingen.
Haben Sie auch mehr Mitglieder aus den Ostbundesländern?
Ja, viele betreiben das aus Tradition, die sind schon ewig dabei. Und viele wohnen in der Nähe des Orankesees.
Eisbaden gilt als sehr gesund und wohltuend. Wie viel gesünder sind Sie denn als wir Nichteisbader?
Eisbaden fördert die Durchblutung und ist gut für den Kreislauf. Nach dem Kältereiz durch das Wasser merkt man, wie es einen warm durchströmt, sobald man rauskommt. Eisbaden stärkt das Immunsystem. Klar, vor einem bösen Virus sind auch wir nicht gefeit, aber eine Erkältung ist bei uns meistens schneller vorbei und weniger schlimm. Dazu gibt es ja auch genug Forschungen. Medizinstudenten haben uns auch schon mal getestet. Eisbaden ist wohl auch gut gegen freie Radikale, die die Zellen schädigen. Geschadet hat’s jedenfalls noch keinem.
Dennoch gibt es Gefahren beim Eisbaden, oder?
Ja, wenn man mitten in der Saison anfängt, ist das nicht gut. Man sollte schon im September oder Oktober damit beginnen. Ein absolutes No-go ist es, den Kopf unter Wasser zu halten. Wir wollen auch nicht, dass die Leute zu lange im Wasser bleiben oder, wenn kein Eis auf dem See ist, zu weit rausschwimmen. Und wer zum Beispiel herzkrank ist, sollte sich natürlich vorher untersuchen lassen.
Was sagt Ihr Arzt oder Ihre Ärztin?
Meine Ärztin kennt mein Hobby und findet das völlig in Ordnung.
Dennoch gibt es wahrscheinlich Leute, die Sie als verrückt bezeichnen.
Ja. Eisbaden wird oft als verrücktes Hobby dargestellt. Aber es macht einfach Spaß.
Und Wettkämpfe gibt es auch?
Ja, Weltmeisterschaften im Kaltwasserschwimmen gibt es auch. Das sind relativ kurze Distanzen, die man da absolviert. Da haben auch schon Mitglieder von uns Preise gewonnen.
Aber in Berlin gibt’s keine Turniere?
Nein, hier machen wir das nur aus Spaß an der Freude.
Berlin scheint dennoch eine große Eisbadergemeinde zu haben.
Ja, unser Verein gehört zu den größten in Deutschland. Zu den Veranstaltungen kommen oft mehrere Hundert Leute. Und unser Weihnachtsbaden war via YouTube weltweit zu sehen. Am ersten Weihnachtstag singen wir vor dem Baden immer Weihnachtslieder zusammen. Das ist Tradition bei den „Seehunden“.
Temperaturgrenzen nach unten gibt es nicht?
Nee, das Wasser bleibt bei etwa 0,5 Grad. Das ist ja Physik.
Und es ist auch egal, wie dick das Eis und wie eiskalt es draußen ist?
Ja, ich habe auch schon bei minus 17 Grad Außentemperatur gebadet. Hat auch Spaß gemacht. War schön, die Sonne schien.
Gibt es nach dem Bad eine Belohnung? Oder Rituale?
Nein, in der Regel fährt jeder nach Hause.
Kein „Après-Swim“? Keinen Glühwein?
Wenn jemand Geburtstag hat, bringt der schon ’ne Runde mit. Ansonsten unternehmen wir im Herbst immer eine gemeinsame Wanderung und im Frühjahr eine Wochenendfahrt, da geht es geselliger zu.
Sie haben mit Karl dem Großen und Goethe zwei prominente Vorgänger in Sachen Eisbaden. Wissen Sie da Näheres?
Von den beiden ist mir das neu. Ich kenne die Tradition nur von wandernden Indianerstämmen und weiß, dass es in Sibirien üblich war oder ist.
Ich glaube, Goethe hat auch nichts über das Eisbaden geschrieben.
Vielleicht waren ihm seine Frauengeschichten wichtiger.
Was ist mit weiteren Vorläufern? Ist Ihr Hobby hier in Deutschland aus der Kneipp-Kur hervorgegangen?
Das kann schon sein. Da hat man wohl erkannt, dass Abhärtung gut ist.
Kann jedeR EisbaderIn werden?
Im Prinzip schon. Unser ältestes Mitglied war ein 98-Jähriger.
Herzlichen Dank für das Gespräch. Ich habe noch gute Nachrichten für Sie: Es soll wieder ein bisschen kühler werden.
Schön. Dann bleibt das Eis auf dem See.
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