Einwanderungsland Deutschland (1): Schröder wirbt 30.000 Computerspezialisten an und bringt den Ausländerdiskurs voran: Kollege „Inder“
Der Ausländerdiskurs in der Bundesrepublik ist seit dem 23. Februar um eine neue Gestalt bereichert. Wir kennen die Bilder vom „Fremdarbeiter aus dem Osten“ der 40er-Jahre, vom „heißblütigen Italiener“ oder „schmutzigen Türken Ali“ aus der Gastarbeiterepoche der 50er- bis 70er-Jahre, vom kurdischen oder afrikanischen „Asylanten“ der 80er- und 90er-Jahre sowie von dem heutigen gesichtlosen, weil „unsichtbar im Dunkeln bleibenden“ Illegalen. Dieses Bilderalbum wird nun um die Figur des „Computer-Inders“ (Bild) als einem „High-Tech-Gastarbeiter“ (Süddeutsche Zeitung), einem „Gastarbeiter de luxe“ (Frankfurter Rundschau) erweitert. Der Standort Deutschland hat einen neuen Mitarbeiter.
Mitarbeiter? War die Rolle des traditionellen – nennen wir ihn fordistischen Gastarbeiters – eindeutig männlich definiert und beschränkte sich das Bild von ausländischen Frauen im Gastarbeiterdiskurs auf ihre Rolle als „Familiennachzug“, so übermitteln die Agenturen jetzt überwiegend Bilder von hoch qualifizierten Computerspezialistinnen. Damit überwinden sie die altgedienten androzentrischen Vorstellungswelten.
Mit Blick auf die Vergangenheit des bundesdeutschen Migrationsdiskurses erscheint es geradezu fantastisch, dass ausgerechnet der indische Arbeitsmarkt die Ressourcen zur Verfügung stellen soll, die dem blutarmen bundesdeutschen Arbeitsmarkt auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert fehlen. Nicht nur lernen wir, dass Inder „von ihrer Mentalität her in logischem Denken und in der Mathematik gut ausgebildet“ sind (Bitkom), sondern „der Inder“ ist darüber hinaus diskursiv eine gänzlich unverbrauchte Gestalt. Für die Rezeption und Akzeptanz der neuen KollegInnen bedarf es keiner Überwindung alter Vorurteile. Im bundesdeutschen Ausländerdiskurs sind bereits zahlreiche Ausländer(bilder) verbrannt. Der Pole klaut, der Türke ist ein gewaltbereiter Islamist, der Vietnamese gilt als Zigarettenmafioso; und der Italiener hat es gerade erst in der jüngsten Zeit geschafft, aus der Rolle des Gastarbeiters in das Armani-Jackett zu schlüpfen. „Der Inder“ und „die Inderin“ hingegen sind neue Lichtgestalten am Horizont des Migrationsdiskurses. Hell und sympathisch gekleidet, können sie schon fast als „White Collar“-, vielleicht sogar als „White Colour“-Angestellte gelten. Als Hindus sind sie zudem potenziell friedlich und für die spirituell nach Orientierung suchende deutsche Mittelschicht allemal akzeptabler als das „Feindbild Islam“. „Der Inder“ ist dabei die arbeitsmarkt- und geopolitische Weiterentwicklung der Schröder/Blairschen Politikentwürfe: Geografisch und „kulturell“ zwischen den „fundamentalistisch-islamistischen“ Staaten des Nahen Ostens und den in der Pubertätskrise befindlichen aggressiven „Jungen Tigern“ des Fernen Ostens, ist Indien ein geradezu natürliches Mitglied und Verbündeter der „Neuen Mitte“.
Doch trotz dieser Unverbrauchtheit „des Inders“ im bundesdeutschen Ausländerdiskurs eröffnen sich über kleine Umwege sogleich wieder Möglichkeiten der diskursiven und damit sozialen Positionierung. Schon ist – selbst in der schönen neuen Welt des Internets und des Global Village – vom „Internet-Kuli“, also einem Lastenträger und Tagelöhner die Rede. Und gleich taucht als komplementäre Gestalt zum Kuli der – nun deutsche – Gentleman auf, der mit Stil und Freundlichkeit, aber trotzdem mit Bestimmtheit dem „Gastarbeiter de luxe“ seinen (Arbeits-)Platz in der Gesellschaftspyramide zuweist. „Der Inder“ ist zwar in Relation zu den Kollegen aus der Türkei deutlich besser besoldet, aber es werden keineswegs gleich deutsche Spitzengehälter gezahlt. Wie bisher werden die Führungspositionen in Verwaltung und Politik gegenüber MigrantInnen weitestgehend abgeschottet; dennoch zeichnet sich ein neues, um eine Nuance erweitertes Migrationsregime ab: Es gibt jetzt nicht mehr nur den unterschichtenden Arbeitsmigranten wie etwa die Gastarbeiter der ersten Generation, die wieder eingeführten Saisonarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, die Werkvertragsarbeitnehmer auf dem Bau oder die „Illegalen“. Ihnen wird mit „dem Inder“ nun ein potenzieller Aspirant für einen mittleren Platz zur Seite gestellt. Das alte und sich bekanntermaßen als untauglich erwiesene Modell des lediglich temporären Aufenthalts wird erneut benutzt und diesmal zusätzlich legitimiert mit dem Argument: „Nur so kommen wir gemeinsam durch.“ Andernfalls drohe der Konkurs der zukunftsträchtigen Branche des Standortes Deutschland.
Rot-Grün überwindet mit der Schröder-Initiative den bisherigen Ausländerdiskurs, der entweder gesellschaftliche Partizipation einforderte oder den kulturellen Dissens und Konflikt thematisierte. Stattdessen wird die Diskussion überführt in das neue und doch zugleich altbekannte Fahrwasser des Primats der Ökonomie – nun allerdings unter den geänderten Bedingungen eines postfordistischen, eines Microsoft- oder Internet-Kapitalismus. Mit seiner Offensive hat Schröder ein Tor aufgestoßen, das – weniger in den Szenarien der Planungsstäbe der Administration, wohl aber auf der politisch-proklamatorischen Ebene – bislang verschlossen war. Schröders „Inder“ sind die Prototypen der neuen MigrantInnen: jung, gebildet, marktgängig. Sie zeichnen sich als Zielgruppe eines zukünftigen Einwanderungsgesetzes ab. Auch wenn die Migrationsforschung Schröders Initiative noch als Stückwerk und „Ad-hoc-Politik“ in der Tradition der „CDU-Migrationspolitik mit rot-grünem Schleifchen“ bewertet und andere auf die „Nullquoten-Position“ von Innenminister Schily verweisen; auch wenn einige das Lohndumping bekämpfen (DGB, IG Metall) oder ihren bürokratischen Monopolismus verteidigen (Bundesanstalt für Arbeit); auch wenn die Ethnonationalisten in der CSU ihr letztes Abwehrgefecht gegen „Dauereinwanderung“ führen: Die „Computer-Zauberer“ aus Indien werden die erste real existierende Quote einer neuen Einwanderungsgesellschaft sein. Derweil sitzt Vorgänger Ali von der sozialpolitischen Nachhut des rheinischen Kapitalismus notdürftig betreut im „Interkulturellen Altenheim“ der AWO Duisburg-Nord.
Die alten rot-grünen Debatten der Oppositionszeit schlagen nun in einen migrationspolitischen Utilitarismus um, dessen einziger Bezugspunkt der Shareholder-Value der Deutschland AG ist. Mittelfristig werden die ethnisch-nationalen Beschränkungen des alten Diskurses überwunden werden. Die Bundesrepublik wird zur modernen Praxis der USA kommen und vergleichbare wirtschaftsliberale Regulierungen des Faktors Arbeit entwickeln. Das entsprechende Einwanderungsgesetz hat allerdings schon heute „sein“ Gesicht – es ist „indisch“. Jan Motte
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