Einsamkeit in der Gesellschaft: Bis es wehtut
Mehr Community, weniger Gemeinschaft: Einsamkeit ist zum großen Thema unserer Zeit geworden. Aber wie verbreitet ist sie wirklich?
Wenn die Einsamkeit sie überkommt, sitzt Mira* in ihrer Küche am Tisch und grübelt. Sie denkt darüber nach, woher dieses Gefühl kommt, das ihr Leben schon seit ihrer Kindheit dominiert. Mira fragt sich, wie viel ihrer Einsamkeit aus ihr selbst kommt, wie viel gesellschaftlich bedingt ist. Warum das Gefühl sie auch dann plagt, wenn sie von Menschen umgeben ist. Sie beobachtet andere, fragt sich, wieso sie nicht so lachen, plaudern, sein kann. Seit ein paar Jahren ist sie auf der Suche nach dem Warum. Eine Antwort hat sie noch nicht. Also sucht sie weiter.
Mira ist eine junge, hübsche Frau mit langen Haaren, die sich an ihr hellblaues Sommerkleid schmiegen. Wenn sie aufgeregt ist, wird sie heiser, dann redet sie leiser und etwas gebrochen. Sie hat sich auf eine Annonce im Internet gemeldet: „Suche Menschen, die sich einsam fühlen.“ „Ich habe schon seit meiner Kindheit mit Einsamkeit zu tun/kämpfen. Ich würde gerne mit dir darüber reden“, schrieb sie zurück.
Die Annonce ist Teil einer taz-Recherche zu Einsamkeit. Zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Menschen in Deutschland leiden zeitweise unter Einsamkeit, ergab eine Studie der Uni Bochum von 2016. Bei Menschen über 85 sind es 20 Prozent. Das Thema wird auch aktuell wieder diskutiert. „Immer mehr Deutsche fühlen sich einsam“, lauteten die Schlagzeilen von Welt, Tagesschau und anderen Medien noch am Donnerstag. Von 2011 bis 2017 sei die Einsamkeitsquote bei 45- bis 84-Jährigen um 15 Prozent, in einzelnen Altersklassen um knapp 60 Prozent gestiegen. Die Zahlen stammen aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP.
Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat das Thema vergangenes Jahr zur Chefsache erklärt, um der „traurigen Realität des modernen Lebens“ zu begegnen. In Deutschland ist die Debatte in dem Maße noch nicht in der Bundespolitik angekommen, aber auch hier wird diskutiert, wie mehr gegen die Vereinzelung von Menschen getan werden kann. Wer ist zuständig für die, die sich einsam fühlen?
Das Thema ist schambehaftet
Mira
Ausgangspunkt der Recherche war der Hashtag #KeinerBleibtAllein auf Twitter. Das Projekt begann am 24. Dezember 2016 infolge eines Posts von Christian Fein, der an Weihnachten mit dem Hashtag #KeinerTwittertAllein einsame Menschen zusammenbringen wollte. 2018 wurde aus dem Hashtag der Verein „Keine(r) Bleibt Allein“. Die Idee: Menschen, die sich einsam fühlen, melden sich und werden an andere vermittelt. Eine Dating-Plattform für Menschen, die nicht Sex oder Liebe suchen, sondern Gesellschaft.
Unter dem Hashtag finden sich zahlreiche Einträge. „Hallo, mir geht’s beschissen“, schreibt die Nutzerin @GuteLaune10. „Ich würde so gerne Menschen kennen lernen, habe aber teilweise unglaubliche Angst davor und weiß nicht, wie ich das überhaupt anstellen soll“, der Nutzer @justaparasite1. Viele Menschen hätten sich auf den Hashtag gemeldet und „zueinander gefunden“, sagt Initiator Christian Fein. Aber kaum jemand will darüber sprechen. „Weil ja niemand gern damit hausieren geht, dass er nicht in der Lage ist, sich zu sozialisieren.“
Über den Hashtag findet sich niemand, der mit einer Journalistin reden will. Auf die Annonce im Internet meldet sich Mira als Einzige. Aber auch für sie ist das Thema schambehaftet, weshalb sie darum bittet, dass ihr Name geändert wird.
Mira wechselt im Gespräch oft zwischen kindlicher Begeisterung und erwachsenem Pragmatismus. Ihre kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus ist ihr Rückzugsort. Hier fühlt sie sich geborgen.
Lange fühlte Mira sich stimmlos
Sie sammelt DVDs und alte Videokassetten, „Harry Potter“, „Sonnenallee“ – Filme, die die Jugend von Menschen in ihrem Alter geprägt haben. In der Ecke ihres Schlafzimmers steht ein E-Piano. Wenn sie traurig ist, setzt sie sich an das E-Piano und singt. „Ich habe mir immer gewünscht, singen zu können, aber ich war lange stimmlos“, sagt sie. Stimmlos in dem Sinne, dass sie sich nicht ausdrücken konnte. „Im Alltag wie musikalisch.“
Die meiste Zeit verbringt Mira allein. Täglich geht sie mit ihrem Hund spazieren, manchmal in einen Park oder den Wald. Doch immer nur kurz, denn der Hund ist alt. „Ich bin gern allein“, sagt Mira. Sie mag es, in eine kleine Bäckerei um die Ecke zu gehen, Kaffee zu trinken und im Schatten zu lesen. „Weil ich gerne indirekt unter Menschen bin.“
Susanne Bücker, Psychologin
Sie mag eigentlich Partys, sagt Mira, vor allem Techno in dunklen Kellern, in denen sie verschwinden kann. Doch sie geht selten aus. Ab und zu wird sie auf Geburtstage eingeladen. Dann sitzt, trinkt, redet sie – wie andere Frauen in ihrem Alter auch. Aber eine wirkliche Verbindung zu den Menschen kann sie nicht aufbauen.
Zwei Jahre ist es her, dass Mira ihren Geburtstag zum ersten Mal groß gefeiert hat. Sie hatte gerade ein neues Studium begonnen, viele ihrer Kommiliton*innen waren gekommen. Sie einen Raum gemietet, „viel zu gepflegt und langweilig“, sagt sie heute. Die Stimmung sei trotzdem gut gewesen. Es habe eine kleine Bühne gegeben, auf der sie gesungen habe. Danach sei Dub gelaufen, später Downbeat. Über 40 Leute waren da. Kurz bevor sie nach Hause ging, habe sie mit Leuten ausgelassen getanzt.
Sie war nicht allein. Und doch sagt sie heute: „Das war der einsamste Geburtstag, den ich je hatte.“ Denn auch, wenn die Feier von außen betrachtet schön gewesen sein mag, fühlte sie sich innerlich verloren. „Ich bin auf die Anzahl meiner Kontakte bezogen eigentlich nicht so einsam, wie ich mich fühle.“ Aber es gebe keine Person, bei der sie einfach so sein kann, wie sie ist. Die Menschen auf der Party waren ihre Bekannten – aber keine echten Freund*innen.
Sie versucht, es symbolisch darzustellen: „Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Der Punkt bin ich, die im Mittelpunkt steht. Um mich herum ganz viele andere Punkte. Die Gäste. Und zwischen meinem Punkt und den anderen eine unsichtbare, undurchdringbare Masse.“
Die Psychologin Susanne Bücker definiert Einsamkeit als das „subjektive Gefühl, nicht genügend soziale Kontakte zu haben“. Bücker promoviert an der Uni Bochum zu „kritischen Lebensereignissen, Persönlichkeit und Entwicklungen der Einsamkeit“. Ihre Forschung stützt sich auf die Studien des verstorbenen Sozialpsychologen John Cacioppo, der mit seinem Buch „Loneliness“ eine oft zitierte Analyse präsentiert hat. Er betonte, dass Einsamkeit nicht an die An- oder Abwesenheit von Menschen gebunden sei – und auch nicht daran, wie viele Menschen man kenne.
Keine Epidemien der Einsamkeit
Zahlen des statistischen Bundesamts zeigen, dass das Alleinleben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat: Single-Haushalte, zunehmende Individualisierung, Abkehr von der Kleinfamilie. Doch bedeutet das auch eine Zunahme der Einsamkeit? „Nein“, sagt Bücker. Die Einsamkeitsforschung zeige, dass die Zahl der Einsamen eher stabil geblieben sei. „Epidemien der Einsamkeit, wie sie gerne betitelt werden, gibt es nicht“, sagt Bücker.
Doch warum ist das Thema dann so präsent? Bücker erklärt das damit, dass vermehrte Medienberichte eine größere Aufmerksamkeit schaffen würden. Zwar beschäftige sich die Forschung bislang vor allem mit Einsamkeit im Alter, zunehmend werde aber auch Einsamkeit in jungen Jahren untersucht. „Ich glaube nicht, dass junge Menschen einsamer sind, als sie das noch vor vielen Jahren waren“, sagt Bücker.
Ihre These: Es gibt verschiedene Punkte im Leben, an denen Menschen sich besonders einsam fühlen, vor allem in Zeiten des Umbruchs.
Jugendliche in der Pubertät etwa, Menschen Mitte 30, die der Druck von beruflicher Etablierung und gleichzeitiger Familienplanung lähmt und deren soziales Netz etwa durch den Rückzug in die Kleinfamilie geschwächt wird – oder alte Menschen, denen Gesundheitsprobleme und soziale Isolation zu schaffen machen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Maggie Jakob hat erlebt, wie man mit zunehmendem Alter immer einsamer werden kann. Aber auch, dass das nicht unumkehrbar ist. Jakob ist eine lebhafte Seniorin mit Hamburger Schnauze. An Gäste, die noch nie bei ihr waren, schickt sie per WhatsApp detaillierte Wegbeschreibungen vom Hamburger Hauptbahnhof bis zum U-Bahnhof Horner Rennbahn. Fotos, Sprachnachrichten, Text.
Wenn die Besucher*innen dann ankommen, steht die 77-Jährige mit pinkem Lippenstift und blauem Lidschatten, in Jeans und Hemd gekleidet, freudig winkend am Gleis und führt sie schnellen Schrittes durch die Unterführung bis zum Parkplatz um die Ecke, wo sie ihr kleines Auto geparkt hat. Etwa zehn Minuten fährt man noch bis zu ihr nach Hause, in eine ruhige Mehrfamilienhaus-Siedlung. Jakobs Routine, wenn sie abends in die Hamburger Innenstadt fährt.
Sie wirkt selbstbewusst. Doch das war nicht immer so. Mit 57 ging sie in Frührente, weil sie in ihrer Firma gemobbt wurde, wie sie erzählt. Schon lang vorher war sie geschieden worden, ihr Sohn, den sie allein großgezogen hatte, war auch ausgezogen.
Mit dem Verlust des Jobs fiel ihre Hauptbeschäftigung weg. Sie wurde traurig, fühlte sich leer. Als die Einsamkeit sich in ihr Leben schlich, entschied sie, dagegen anzukämpfen. „Ich habe gemerkt, dass ich etwas tun muss, unter Leute gehen muss.“ Erst besuchte sie einen PC-Kurs für Senior*innen, später auch Kartenspielgruppen im nahe gelegenen Seniorentreff.
Speed-Dating, Silent-Diskos
Die Einsamkeit aber blieb. Bis Jakob eines Tages, vor sechs Jahren, von einer Bekannten eine E-Mail weitergeleitet bekam. „Einladung zum Flashmob.“ Absender war der Hamburger Verein „Wege aus der Einsamkeit“, der sich bundesweit für die Verbesserungen der Lebensumstände älterer Menschen einsetzt. Mit Flashmobs, Speed-Dating, Silent-Disko – mit modernen Ideen abseits von Skattreffs.
Für Jakob war das der Wendepunkt. Wenn sie sich heute an ihren ersten Flashmob erinnert, reißt sie noch immer ihre Arme zur Tanzbewegung in die Luft. Tagelang schaute sie das Übungsvideo zum Song „Spark of Life“ auf YouTube an, übte Tanzschritte. Dann, am 1. Oktober, dem Weltseniorentag, ging sie zum Hamburger Hauptbahnhof. Dutzende Senior*innen fingen unter strahlendem Sonnenschein auf Kommando mitten auf dem trubeligen Bahnhofsvorplatz an, die Choreografie zu tanzen – mittendrin Maggie Jakob. Videos auf YouTube zeigen sie auf vielen weiteren Flashmobs – immer gut gelaunt vorne dabei.
Mit den Flashmobs begann ihr Weg aus der Einsamkeit: Mit den anderen Senior*innen aus dem Verein ging sie auch in Restaurants und auf Konzerte. An einen Abend erinnert sie sich gut. Die Gruppe war auf der Reeperbahn unterwegs. „Wir waren anderthalb Stunden auf der Tanzfläche und haben abgerockt“, erzählt sie und fängt an zu singen: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.“
Sie scrollt durch die Bildergalerie auf ihrem Smartphone. Ein Foto mag sie ganz besonders: Maggie Jakob in den Armen eines Drag-Duos, das sie an einem ihrer Reeperbahn-Abende kennengelernt hat. Das Foto ziert ihr Facebookprofil – mit dem Duo ist sie inzwischen befreundet.
Helfen soziale Medien, oder verschlimmern sie Einsamkeit?
Älteren Menschen die digitalen Möglichkeiten näherzubringen, ist einer der Schwerpunkte des Vereins „Wege aus der Einsamkeit“. „Mir bringt das Spaß“, sagt Jakob. „Man sieht die Leute ja nicht so oft, aber man hat immer das Gefühl, dass man Kontakt mit ihnen hat.“
Soziale Medien als Vehikel, neue Kontakte zu knüpfen und alte wiederzubeleben. Scrollen gegen die Einsamkeit. Instagram, Facebook, Snapchat und all die anderen digitalen Netzwerke suggerieren, dass man ständig Kontakt zu anderen Menschen habe. Sind die Likes, Chats und Kommentare aber wirklich ein Mittel gegen Einsamkeit?
„Durch Social Media fühle ich mich erst einmal weniger einsam“, sagt Mira in ihrer Küche. „Gleichzeitig fühle ich mich aber noch einsamer, wenn ich sehe, was und wie viel andere erleben.“ Sie verbringt viel Zeit auf YouTube oder Instagram. Oft sitzt sie abends allein am Küchentisch neben dem leise brummenden Kühlschrank und dem schlafenden Hund und schaut einfach nur auf ihr Smartphone.
Auf Instagram sieht sie dabei zu, wie andere Musiker*innen ankündigen, wo sie als nächstes auftreten oder ihr neues Album präsentieren. Sie schaut sich Videos von anderen an, von Bekannten und Fremden, wie sie mit Freund*innen am See sitzen, während sie selbst zu Hause ist. „Das macht schon was mit mir.“ Sie denkt dann: „Alle sind aktiv, nur ich sitze hier, meine Augen tun schon weh, es ist Sommer und ich hänge zu Hause und gucke mir Instagram-Storys an.“
Das Gefühl, nicht dazu zu gehören
Woran liegt es, dass soziale Medien den einen aus der Einsamkeit helfen, die anderen aber noch tiefer hineinziehen? Eine qualitative Studie der University of Pennsylvania von 2018 zeigt, dass Menschen, die weniger Zeit mit sozialen Medien verbringen, auch weniger Einsamkeits- und Depressionsgefühle haben. Bei Menschen, die mehr als zwei Stunden am Tag mit sozialen Medien verbringen, ist die Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu fühlen, etwa doppelt so groß wie bei Menschen, die nur maximal eine halbe Stunde am Tag damit verbringen.
Betroffen sind vor allem Nutzer*innen, die sich bereits vorher einsam fühlen. Sie neigen eher dazu, soziale Medien zu nutzen, um soziale Kontakte herzustellen – meist ohne Erfolg. Darin steckt ein Paradox: Die Suche nach Anerkennung und Kontakten in sozialen Netzwerken führt bei vielen Menschen verstärkt zu dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Mira sagt: „Diese Kraft der Likes, das Gefühl, dass mich jemand wahrnimmt, ist letztlich eine Illusion.“
Doch es gibt auch die andere Seite. Positivbeispiele, wie Maggie Jakob oder #KeinerBleibtAllein zeigen, dass soziale Meden gegen die Einsamkeit helfen und tatsächlich sozial wirken können. Maggie Jakob konnte dank Social Media Kontakte im realen Leben stärken.
Die Psychologin Bücker sagt, es lasse sich statistisch zwar ein Zusammenhang zwischen Einsamkeit und sozialen Medien finden, es gebe aber bisher kaum Forschung zum kausalen Wirkungszusammenhang. Es sei wie mit der Frage nach der Henne und dem Ei. Viel stärker als digitale Netzwerke haben persönliche Erlebnisse und die eigene Biografie Einfluss auf das Einsamkeitsgefühl.
Miras Heimat ist ein Ort, den sie als „Stadtteil, durch den Leute durchfahren und es ihnen dann auch schon reicht“ beschreibt. Ihre Mutter war alleinerziehend und auf Hartz IV angewiesen.
„Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Depression“, sagt Susanne Bücker. Ein wechselseitiger Prozess: Menschen, die einsam sind, entwickeln depressive Symptome. Menschen, die Depressionen haben, ziehen sich häufiger aus dem Alltag zurück und werden einsam. „Im Grunde genommen ist es ein Teufelskreis. Eine Abwärtsspirale, die sich gegenseitig bedingt“, sagt die Psychologin.
Von niemandem gesehen
Mira sagt: „Ich war überwiegend die Stille, die Komische mit den hässlichen Klamotten. Habe mich nie irgendwo zugehörig gefühlt.“ In der Schule wurde sie gemobbt, fehlte oft. Von einer der Klassenbesten wandelte sie sich zu derjenigen mit den meisten Fehlstunden. Ihre Lehrerin habe sich bei der Zeugnisausgabe darüber lustig gemacht, sagt sie heute. „Es gab so viele Hinweise darauf, dass bei mir etwas nicht stimmt. Aber ich war zu unauffällig. Es wurde von niemandem gesehen.“
Neurologen haben herausgefunden, dass bei starken Einsamkeitsgefühlen das gleiche Zentrum im Gehirn aktiviert wird, das auch körperlichen Schmerz spürbar macht. Für unser Gehirn ist Einsamkeit ebenso schmerzhaft wie ein Fall auf den harten Asphalt. Und das tut vor allem deshalb weh, weil man den Schmerz nicht erwartet.
Mira zog sich mit zunehmendem Alter immer mehr in sich zurück, entwickelte einen Selbsthass. Mit 17 zog sie von zuhause aus, geplagt von Zwangsgedanken, Ängsten, Einsamkeit. Hilfe erhielt sie erst mit 24, als sie aus eigenem Antrieb in eine Klinik ging. Heute hat sie die Vergangenheit aufgearbeitet, an Selbstvertrauen gewonnen. Dennoch: Die Folgen der Erlebnisse bleiben. „Es ist nicht so, dass ich aufgegeben habe. Ich versuche viel und kümmere mich“, sagt Mira.
Zurzeit ist sie auf Hartz IV angewiesen. Sie kämpft mit den Sanktionen und dem sozialen Stigma. „Da werden alle über einen Kamm geschert – ob Langzeitarbeitslose, Kranke oder diejenigen, die wirklich nicht arbeiten wollen“, sagt sie. „Es ist schwierig, da rauszukommen.“
Armut führt häufiger zu Einsamkeit
Dass Einsamkeit besonders dort anzutreffen ist, wo Menschen arm sind, zeigt auch eine 2017 veröffentlichte Studie der Universität Hamburg. Es wurde untersucht, inwiefern Einkommen, Bildung und Erwerbstätigkeit einen Einfluss auf soziale Beziehungen nehmen. Das Ergebnis: Armut führt häufig zu sozialer Isolation.
Damit hat Einsamkeit auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Die Forscher*innen kritisieren die Verlagerung sozialer Unterstützung vom Staat hin zur Familie – und somit in das Private. „In unserer individualistischen Gesellschaft beziehen wir unseren Selbstwert zwar stärker über uns selbst und nicht so sehr über unsere Rolle im sozialen Netzwerk, wie das in kollektivistischen Gesellschaften der Fall ist“, sagt Bücker. „Aber das führt auch dazu, dass wir weniger kommunizieren, vermehrt auf uns selbst schauen und nicht mehr auf unsere Mitmenschen.“
In Großbritannien soll der Regierungsposten mit Verantwortung unter anderem für Einsamkeit genau dagegen vorgehen. Mit der „Campaign to end loneliness“ wird dazu aufgefordert, fremde Menschen anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. An der Supermarktkasse, in der U-Bahn, im Park.
Laut Premierministerin Theresa May sollen verstärkt ungenutzte Areale zu Gemeinschaftsorten, wie Community-Cafés, Kunsträume oder öffentliche Gärten, umgebaut werden. Rund 20 Millionen Britische Pfund werden bereitgestellt, um ehrenamtliche Gruppen und Communitys zu fördern – vor allem soziale Aktivitäten wie Kochklassen, Kunstgruppen, Sportkurse.
„An Einsamkeit sterben Menschen“
Community Building gegen Einsamkeit als Regierungssache – braucht es das auch in Deutschland? Die Große Koalition diskutiert seit einer Weile über das Thema. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und auch Marcus Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sind sich einig, dass sie Einsamkeit zum politischen Regierungsthema machen wollen. Marcus Weinberg will die traditionelle Kernfamilie wieder stärken, Karl Lauterbach warnt vor gesundheitlichen Folgen der Einsamkeit: „An Einsamkeit sterben Menschen.“
Zwar ist Einsamkeit keine Krankheit im eigentlichen Sinn – sie wirkt sich als psychische Belastung aber auch auf die physische Gesundheit aus. Insbesondere ein schwächeres Immunsystem, Kopfschmerzen und Herz-Kreislauf-Probleme sind laut dem Neurologen und Psychologen John Cacioppo die häufigsten körperliche Symptome der Einsamkeit.
„Es gibt sehr viele Schnittstellen beim Thema Einsamkeit, für die es schon Ministerien gibt: Familie, Gesundheit, Arbeit“, sagt Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker. Sicher sei es notwendig, dass politisch mehr über Einsamkeit gesprochen werde – aber auch schwierig. „Es ist ja ein subjektives Gefühl.“
Statt eines Regierungspostens brauche es ein gutes Gesundheitssystem, das Einsame auffängt, sagt Bücker. Psychotherapie helfe, aber auch der Kontakt über Einsamkeitsinitiativen. Noch besser wäre es jedoch, möglichst viele Menschen würden sich schon früh ein soziales Netz aufbauen, das einen in Krisenzeiten hält. Ehrenamtliches Engagement oder andere Formen sozialer Einbindung wirken da präventiv, so die Wissenschaftlerin. „Interventionen wirken nur dann, wenn sie auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt sind.“
Mira ist pragmatischer geworden
Die Ursachen für Einsamkeit sind komplex – und bei jedem Menschen anders. Maggie Jakob hat das Aktivwerden aus der Abwärtsspirale befreit.
Mira ist arbeitslos, aber sucht weiter. Zwar sei die Einsamkeit geblieben, jedoch sei ihr Umgang damit pragmatischer geworden, sagt sie. Mira genießt den herannahenden Sommer, geht spazieren, trinkt in der Sonne Kaffee und liest oder besucht Konzerte. Selbst hat sie lange keines gegeben, aber zuhause macht sie weiter Musik.
* Name geändert. Der echte Name der Protagonistin ist der Redaktion bekannt.
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