piwik no script img

Eine neue Schule

Für Olga Grjasnowas Kinder mag es zu spät sein, aber künftige Generationen im deutschsprachigen Raum verdienen ein besseres Schulsystem, findet sie

EssayMeine Tochter wurde in diesem Jahr zehn und ihre Klasse wurde aufgeteilt: in die Kinder, die auf die Mittelschule gehören,und jene, die ein Gymnasium besuchen dürfen. Kein Kind aus ihrer Klasse, dessen Elternteil einen akademischen Abschluss hatte, landete auf der Mittelschule – so heißt diese Schulform in Wien. In Deutschland wäre es je nach Bundesland die Realschule oder die Haupt- und Realschule. In der Klasse meiner Tochter träumte ein Kind davon, die Erste in der Familie zu sein, die ein Gymnasium besuchen würde. Doch dazu kam es nicht, auch wenn es kurz danach aussah.

Es gibt mehr als genug Statistiken, die meine Beobachtung bestätigen: Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto häufiger gehen die Kinder aufs Gymnasium. Während in den meisten deutschen Bundesländern die Eltern über die Wahl der Schulform zumindest mit entscheiden, sind es in Österreich nur die Noten. Eltern können sich nicht gegen die Empfehlung der Leh­re­r*in­nen stellen. Eine Drei oder schlechter in Mathe oder Deutsch im Zeugnis der vierten Klasse bedeutet meist, dass der Besuch des Gymnasiums erst einmal unmöglich ist.

Nur werden die Noten in Deutsch und Mathe meist von derselben Lehrperson vergeben, die die Kinder ganze vier Schuljahre lang unterrichtet. Dabei sollte niemand, wirklich niemand, die Macht haben, alleine über die Zukunft eines anderen Menschen zu bestimmen. Nach welchen Kriterien wird entschieden, wenn ein Kind zwischen zwei Noten steht? Wird die höhere Schulform dann verweigert, weil die Lehrperson das Kind einfach nicht auf dem Gymnasium sieht? Sind Noten womöglich fehleranfällig? Oder entscheidet in Wahrheit schon bei der Vergabe der Noten, wenn auch mitunter unbewusst, der Habitus der Kinder (und ihrer Eltern) mit, also auch das ökonomische und kulturelle Kapital der Familien? Ich arbeite selbst an einer Universität. Die Benotung von Leistungen und Aufnahmeprüfungen gehören zu meinem Alltag, vielleicht zweifle ich deswegen an einer Selektion im Alter von neun oder zehn.

„Die Spreu vom Weizen trennen“, scherzen einige ältere Menschen gerne, vor allem in den Kommentarspalten der Zeitungen oder hinter vorgehaltener Hand auf dem Parkplatz. Dieser Satz steckt voller Missgunst gegenüber der jüngeren Generation. Manche Kinder werden für ihre Leistungen – wobei es oft gar nicht wirklich darum geht, sondern um ihre Herkunft – abgestraft. Ich meine damit nicht, dass der Besuch einer Schule, die kein Gymnasium ist, eine Strafe sei. Aber es fühlt sich für viele Kinder und ihre Eltern so an.

Letztes Jahr erschien der Dokumentarfilm „Favoriten“ von der Regisseurin Ruth Beckermann. Sie begleitete über mehrere Jahre eine Grundschulklasse einer Wiener Schule, die sich eher nicht durch wohlhabende Eltern auszeichnet. Der Film bekam überragende Kritiken. Mir blieben die Gespräche, die die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut mit den Eltern und Kindern über die nächste Schulform führte, am stärksten in Erinnerung. In den Unterhaltungen ging es darum, weshalb es die Kinder nicht auf dem Gymnasium schaffen würden.

Auch in den Abschlussklassen der Schule meiner Tochter gab es viele Tränen und Enttäuschungen. Denn alle begreifen, dass diejenigen, die nicht auf eine weiterführende Schule dürfen, aussortiert werden. Und dass ihnen mit dieser Auswahl kein Gefallen getan wird. Ab dann gehören sie zu den Verlierern der Bildungslotterie. Freundschaften gehen kaputt, eine positive Einstellung zum Lernen und dem weiteren Schulweg sieht anders aus.

Das Bildungssystem im deutschsprachigen Raum hat viel von einer Lotterie. Das Los entscheidet nicht nur, wie gut einem Kind die zugeteilte Lehrkraft gesinnt ist, sondern auch, ob sie genügend Zeit hat, ihren Unterricht so zu gestalten, wie sie es möchte – und ob sie es überhaupt vermag, strukturell oder persönlich.

Zur Lotterie gehört auch das Elternhaus. Es gibt Eltern, die wissen, wie das System Schule funktioniert, welche Förderung es gibt und dass man, wenn es doch nicht so läuft, wie man es sich für das eigene Kind wünscht, noch einmal und noch einmal mit den Lehrkräften reden könnte. Natürlich so, dass man auch erhört wird. Falls das nicht funktioniert, wäre auch eine Klage möglich. Natürlich ist dies eine extreme Maßnahmen, aber heißt es nicht: Wissen ist Macht? Zu wissen, wie der Rechtsweg aussieht, vielleicht sogar, an welche Kanzlei man sich wenden kann und wie der Sachverhalt schon vorzuformulieren ist: Das verleiht Macht.

Foto: imago

Während der Grundschulzeit arbeitete ich an den Noten meiner Kinder mit, wobei das Unterrichten von Grund­schü­le­r*in­nen alles andere als meine Kernkompetenz ist. Zudem finde ich, dass Hausaufgabenbetreuung nicht meine Aufgabe sein sollte. Für Klassenarbeiten kann man trainieren. Entweder hat man selbst die Zeit und die Kompetenzen, sich mit dem Schulstoff auseinanderzusetzen, oder man kauft sie eben hinzu. Nachhilfe, Computerprogramme, Lernhilfen, Bücher, Lerncamps, es gibt für fast jedes Problem eine Lösung, man muss sie nur finden und bezahlen können.

Allein für Probleme mit dem Fach Mathematik gibt es eine fast endlose Auswahl: der Klassiker Nachhilfe, also Lehrende, die digital, oder in Großstädten persönlich die Kinder in der Trachtenberg-Methode oder in Mentaler Arithmetik unterrichten. Falls das nicht reicht, gibt es noch Sommerschulen, Lernhefte, Probearbeiten, die mitunter eine verblüffende Ähnlichkeit mit den tatsächlichen Klassenarbeiten haben und auf den Homepages der Verlage für Lehrpersonen mit den entsprechenden Schulbüchern angeboten werden. Natürlich sind diese ausschließlich für Lehrer*in­nen vorgesehen, aber diese Beschränkung lässt sich leicht umgehen. Die Referate erledigt die KI. Ich habe einmal grob überschlagen, was mich ein Halbjahr Mathenachhilfe gekostet hat, und war ziemlich schockiert.

Manche Aufgaben scheinen nur dafür gemacht zu sein, die Geduld der Eltern auf die Probe zu stellen. So sollte meine Tochter in der zweiten Klasse ein Plakat über Lieblingstiere schreiben und illustrieren. Als ob es die Kernkompetenz eines 7-jährigen Kindes sei, das passende Tierbild zu finden, Größe und Auflösung anzupassen, es auszudrucken und noch auf die richtige Länge des Textes dazu und auf die Quellen zu achten. Nach einem langen eigenen Arbeitstag, Hausarbeit und anderen Sachen, die dringend erledigt werden müssen, kümmerte ich mich also um einen Panda, der auf DIN A3 gezeichnet und beschrieben werden sollte. Das hat mich nicht gerade mit Freude erfüllt – und nein, am Ende zählte mein Plakat nicht einmal zu den gelungensten. Vielleicht weil ich dachte, es sollte so aussehen, als ob es ein 7-jähriges Kind alleine gemacht hätte. Doch nach dieser Elternaufgabe wissen Sie als Lehrkraft genau, welche Eltern das Kind zu Hause unterstützen. Und daraus ziehen Sie mitunter auch Schlüsse, wie es durch das Gymnasium kommen könnte.

Ich bin übrigens noch nie Eltern begegnet, die gerne mit ihren Kindern Hausaufgaben machen oder mit ihnen für die Schularbeiten üben, Vokabeln abfragen oder nachts noch Referate schreiben. Wir alle möchten unsere Kinder unterstützen, doch Familienzeit wäre besser anders verbracht. Es wäre sogar sinnvoller, wenn Eltern sich länger ihren Jobs widmen könnten, statt als Freizeitpädagogen Gleichungen zu lösen.

Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie sagte in einem Interview mit dem Spiegel, Deutschland habe das ungerechteste System, das er kenne, und: „Ich staune, dass man in Deutschland meint, schon bei etwa neun bis zehn Jahre alten Kindern einschätzen zu können, was sie später leisten können. Kinder werden frühzeitig getrennt und auf verschiedene Schulformen geschickt. Das nimmt ihnen die Chance, sich im Laufe ihrer Schulzeit zu entwickeln und zu verbessern. Ich kann nicht verstehen, wie man so viel Talent vergeuden kann.“

Ich kam selbst mit elf Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland, wurde zwar zurückgestuft, durfte aber trotzdem aufs Gymnasium. Wäre ich heute nach Österreich, zum Beispiel nach Wien eingewandert, wo ich unterrichte, wäre wahrscheinlich nichts davon passiert. In Wien bleiben überdurchschnittlich viele Kinder wegen mangelnder Deutschkenntnisse sitzen. Manche drei Mal. Es könnte für die Sprachentwicklung tatsächlich etwas bringen, den Deutschunterricht noch einmal zu besuchen, aber was bringt das Sitzenbleiben in anderen Fächern? Entwickelt sich das Kind in Mathematik so weiter, oder wird es nur frustrierter? Von meiner Zurückstufung ist mir außer jahrzehntelanger Scham jedenfalls nichts geblieben. Wenn ich mir vorstelle, es wären drei Jahre gewesen, weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch in die Schule gegangen wäre.

Ich bin noch nie Eltern begegnet, die gerne mit ihren Kindern Hausaufgaben machen

Die frühe Selektion ist ein Sonderweg der deutschsprachigen Länder. Andere Länder wie Finnland, Schweden oder Frankreich kennen keine solche Trennung. Und erreichen zum Teil bessere Ergebnisse in vergleichenden Leistungstests. Zudem steht es in diesen Systemen viel besser um die Chancengleichheit. Das sieht man selbst in den Bundesländern: In Berlin und Brandenburg lernen die Kinder bis zur 7. Klasse gemeinsam, damit erhöhen sich ihre Bildungschancen unabhängig vom Elternhaus. In Bayern haben Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen laut einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes Ifo von 2024 eine Chance von 38,1 Prozent, ein Gymnasium zu besuchen, in Berlin sind es 53,8 Prozent. Wäre das System gerecht, läge der Wert bei 100 Prozent.

Was macht die frühe Trennung, die soziale Selektion mit unserer Gesellschaft? Im Prinzip, dass alles beim Alten bleibt, dass es keinen sozialen Aufstieg gibt, keinen Glauben an die Kinder, keine gesellschaftliche Solidarität. Es ist auch ein ziemlich guter Weg, Menschen von klein auf zu zeigen, dass manche Räume nicht für sie gedacht sind. Dabei sind in unserer Gesellschaft, die gegenwärtig immer weiter auseinanderdriftet, die Schule und die Kindergärten, zwei der wenigen Orte, an denen sich Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Weltbild begegnen.

Es wäre eine Chance, Begegnungsräume zu schaffen. Vor allem, wenn wir bedenken, dass sich eine Revolution der Arbeitswelt durch die künstliche Intelligenz ankündigt. Vieles von dem, was laut Lehrplan eingeübt wird, könnte bald maschinell erledigt werden. Wäre es nicht großartig, mit Blick auf dieses Potenzial eine Gesellschaft zu schaffen, in der miteinander über Herkunft hinweg kommuniziert werden kann oder in der Menschen sich zumindest begegnen? Wo sonst, wenn nicht in der Schule, kann Demokratie- und Empathiefähigkeit überhaupt entwickelt werden? Wo lässt sich sonst noch gesellschaftlicher Zusammenhalt erzeugen, außer in einem Klassenverbund?

Es sind viele diffuse Ängste vor Migranten und armen Menschen, die auf die Schulwahl projiziert werden, vor Kindern, die Schwierigkeiten haben, kein Deutsch können, gewalttätig sind. Sie werden geschürt zum Beispiel von der Bild-Zeitung und bleiben bei Menschen ohne Erfahrung mit Migration und Armut hängen. Doch diese Projektionen sagen mehr über uns und unsere soziale Gegenwart aus, als über die tatsächlichen Schüler*innen.

Eltern hoffen stets, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird. Das Minimum der Mittelschicht mit einem gewissen kulturellen oder sozialen Kapital wäre der Statuserhalt. Dabei geht es nicht nur um das Wohl der Kinder, sondern auch um den eignen Status: Wem begegnet man beim Elternabend? Und hat man unter Umständen sogar selbst noch was davon? Das macht auch manche Privatschulen und bestimmte staatliche Schulen so begehrenswert: Dort lassen sich Kontakte knüpfen, für die Kinder und sich selbst. Von allem und allen anderen versucht man sich indessen abzuschotten.

Schulgebäude sind marode, Informatiksäle ein Witz, Toiletten verstopft

Neben dem Argument der Chancengleichheit, des Mitgefühls und der Solidarität gibt es auch ökonomische Vorteile, die eine frühe Förderung und mehr Gleichheit im Bildungssystem mit sich bringen. Der amerikanische Ökonom Nate G. Hilger hat ein faszinierendes Buch geschrieben, das „The Parent Trap“ heißt und anschaulich beschreibt, was es ökonomisch bedeutet, das Potenzial einer Gesellschaft durch Nichtförderung zu verschwenden. Er plädiert dafür, den Eltern nicht noch mehr zuzumuten, sondern weniger. Sie seien primär dafür verantwortlich, die Kinder zu lieben, die Förderung könnte und sollte der Staat übernehmen. Zudem steigen die Steuereinnahmen rapide, wenn Menschen in qualifizierten Jobs beschäftigt sind und nicht im Niedriglohnsektor oder wenn sie gar auf Transferleistungen angewiesen.

Wir brauchen eine Schule, die tatsächlich gleiche Chancen für alle bietet. Es müsste eine Institution sein, die zugleich den einen die Angst vorm Abstieg nimmt und den anderen den sozialen Aufstieg ermöglicht. Vielleicht könnte die Schule von der Institution Kunsthochschule lernen: Der individuelle Zugang einzelner Lernender und deren Arbeiten stünden im Vordergrund, in Einzel- oder Gruppenbesprechungen würde diskutiert, statt einfach nur benotet. Es gäbe ein Curriculum, das an die Bedürfnisse Einzelner angepasst werden könnte, und den Willen zum Experiment. Oder, wie es der Forscher John Hattie vorschlug: eine Schule, die sich an Schü­le­r*in­nen orientiert.

Ich wünsche mir eine Schule, an der Kinder gemeinsam, aber dennoch differenziert lernen könnten. Das würde allen helfen. Denn im Moment ist niemand mit dem System glücklich, außer vielleicht Menschen, die mit der Schule nichts mehr zu tun haben: Viele Schulgebäude sind marode, die Lehrbücher fallen auseinander oder müssen von Eltern erworben werden, Informatiksäle sind eher ein Witz, die Toiletten verstopft und die Lehrpersonen überarbeitet oder gar nicht erst da. Zudem frustriert der Übergang in die weiterführenden Schulen auch die Eltern, deren Kinder aufs Gymnasium kommen. Der Aufwand und der psychische Druck, den dieser Prozess den Eltern und den Kindern abverlangt, ist zu hoch, zu sinnlos, zu viel. Auch für die Lehrpersonen. Im Prinzip leiden alle. Eine bessere Schule werden meine Kinder nicht mehr erleben. Aber man könnte zumindest jetzt die Weichen für die nächsten Generationen stellen. Wenn man denn wollen würde.

Olga Grjasnowa, Essayistin und Schriftstellerin, wurde 2022 als Professorin für Sprachkunst an die Universität Wien berufen. Sie veröffentlichte zuletzt 2020 „Der verlorene Sohn“.



taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen