: Eine Bühne für die Gestrigen
Das nervt gehörig: Aus zusammengetragenem AfD-Textmaterial montiert Gernot Grünewald einen ganzen Abend „yesterday reloaded“ – zu sehen am Deutschen Theater in Göttingen
Von Jens Fischer
Ein Blick in den Abgrund? Den Untergrund? Den Ungrund? Einen Blick zurück nach vorn jedenfalls wagt Gernot Grünewalds jüngstes Projekt – ein Deutschland von AfD-Gnaden. Entsprechend „yesterday reloaded“ ist es betitelt und soll an die Erfolgsgeschichte des Grünewald’schen Recherchetheaters in Norddeutschland anknüpfen: Der Regisseur hat bereits die Folgen des Völkermords der deutschen Kolonialmacht in Afrika, unbegleitete Flüchtlinge und parlamentarische Flüchtlingsdebatten höchst einfühlsam auf die Bühne des Hamburger Thalia-Theaters gebracht, „Kindersoldaten“ und ein Rechercheprojekt zur langen Intendanten-Ära Kurt Hübners am Theater Bremen sowie den Nachwuchs namibisch-deutscher Eltern am Theater Osnabrück.
Nun stürzt er sich mit satirischem Ingrimm am Deutschen Theater Göttingen in die Welt der Rechtsnationalen und Neofaschisten – ihr Utopia gilt es zu inszenieren. Ein ungewöhnlicher Beitrag zum aktuellen Diskurs: Wie wollen wir in Zukunft miteinander leben? Mit Unterstützung des Instituts für Demokratieforschung der örtlichen Universität hat Grünewald reichlich O-Töne aus AfD-Mündern und -Publikationen gesammelt. Dafür wurden Parteiprogramme durchforstet, Bundestagsprotokolle, Tweets, Facebook-Posts, Reden und Interviews. Ausschließlich im Netz öffentlich zugängliches Material kompilierte Grünewald zu zwölf Akten mit Überschriften wie „Identität + Heimatkultur“, „neue Deutsche“, „Integration“ oder „Wehrkraft“.
Entstanden ist ein hundertminütiger Abend aus 100 Prozent AfD-Jargon. Das nervt. Das soll nerven. Gerade auch in einer studentischen, eher linken, grün-bürgerlichen Stadt wie Göttingen, in der die AfD nicht mal ein Büro hat, aber durchaus Wähler: Bei der Bundestagswahl 2017 konnte die Partei immerhin acht Prozent der Zweitstimmen für sich gewinnen, also die Unterstützung von 13.446 Göttinger*innen; bei der Europawahl 2019 wählten hier 10.309 Menschen die AfD. Kein Vergleich zum benachbarten Sachsen-Anhalt und Thüringen. Aber im südniedersächsischen Umland dumpfdeutscht eine vitale rechte Szene.
Aus den recherchierten Texten schließt Grünewald: Die AfD träumt von einem ein Ort des Rückzugs und der Geborgenheit in einer vermeintlich besseren, früheren Welt. Dem entspricht das Bühnenbild: Ausstatter Michael Köpke ließ eine schäbige Wohnküche bauen – als Heimatmuseum der 1950er-Jahre. Nationalheldenbücher, Großdeutschlandkarte, Kruzifix, Weltkriegsorden, Brahms 4. Sinfonie auf LP sind Requisiten, Blumenbildkalender und Wurstringe schmücken die Wände. Ein gehäkelter Lampenschirm hängt von der Decke, Grünpflanzen verströmen Plastikcharme.
Das Schauspieler*innen-Quartett Katharina Müller, Marie Seiser, Marco Matthes und Volker Muthmann bindet sich Fettpolster um und streift Igelkostüme über. Stichwort Mecki: Die Comicfigur startete ihre Karriere 1949 in der Hörzu, wurde Nachkriegsheld von Bildergeschichten und -büchern sowie als Kuscheltier ein Verkaufsschlager. Bis heute sind Mecki und seine tierischen Freunde als Symbol für Wirtschaftswunder und Biedermann-Leben bestens als AfD-Traumfamilie geeignet – die nun in Göttingen lustig watschelnd, tolpatschig auftritt und Momente der Heimeligkeit zu inszenieren versucht. Papa Igel sitzt mit Pfeife und Zeitung am Tisch, Mama Igel serviert Bier, weil „Frauen im Erwerbsleben“ ja überschätzt werden in „einer von den 68er zerbombten Kulturnation. Das ist der totale Krieg gegen das Volk der Dichter und Denker“: eine Aussage des Brandenburger AfD-Landtagsabgeordneten Steffen Königer auf dem Parteitag 2017 in Hannover.
Der Igel-Familienchor wird gern grundsätzlich, dann stimmt er kieksend bis dezent grölend etwa die Präambel des AfD-Parteiprogramms an. Dieser und auch alle weiteren Texte wurden rhythmisiert und in betont billiges Klangdesign gehüllt, irgendwo zwischen Schlagerselig- und Kinderliedfröhlichkeit. Das groovt nicht, das distanziert. Einige Passagen etwa über Familienwerte kommen dann wiederum mit hehrer Choralemphase daher. Immer wieder tritt ein Igel aus der Gruppe heraus und in eine Karaoke-Box hinein, liefert Gesangssoli ab und spielt dabei mit den Manierismen der Grönemeyerei; etwa beim Song „Multikulti ist gescheitert“. Zum Mitklatschen und Partytanzen animiert dagegen der Möchtegern-Hit über „Kernkraft-Deutschland“ Beiläufig besungen wird auch der Islam – als Infektionskrankheit, deren Ausbreitung einzudämmen sei durch die 100-prozentige Remigration von Neubürger*innen und Asylantragsteller*innen. Und im Zweifel hilft Gewalt: Aus der stacheligen Kernfamilie wird bald eine sich einigelnde Terrorzelle, die fremdländischen Goldhamstern schon mal den Kopf vom Körper trennt.
Gerade durch den putzigen Comic-Stil wirkt das umso erschreckender. Es geht also nicht nur um schlichtes Ablachen über das AfD-Amalgam aus widerständiger Pose, Wissenschaftsfeindlichkeit und autoritärem Populismus, mit dem politische Fragen einzig zur Aktivierung von Ressentiments dienen. Dass die AfD bei ihren Fans das Gefühl der Zurücksetzung füttert und davon zehrt, dass sie Angstmache als Zersetzungsübung für das demokratische Bewusstsein betreibt: So etwas sozialpsychologisch, politisch oder überhaupt irgendwie zu analysieren, vermeidet Grünewald. Aber er kommentiert bissig: Beim Stichwort „normal“ wird sofort der Grill angeschmissen. Wenn Papa Igel fickende Schafe im Fernsehen sieht, holt er sich einen runter und schmiert der Tochter sein Sperma zwischen die Beine. Die Produktion neuer AfD-Deutscher ist Inzucht – gemäß dem Song „Unsere Igel machen wir selbst“. Papa ist da wehrhaft, weist zugewanderten Goldhamstern die Tür, die zu seiner Tochter wollen, selbst wenn sie extra den Hitlergruß erlernt haben. Horrorlustig!
Aber falsch wäre der Eindruck, die AfD pflege nur einen obskuren Retro-Spleen: Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, dass das Potenzial der Menschen mit rassistischen Einstellungen jahrelang bei über zwanzig Prozent lag. Laut Bertelsmann-Stiftung war bis 2018 jeder Dritte populistisch eingestellt, ohne dass das in Parlamenten groß repräsentiert worden wäre. Genau das hat sich mit der AfD geändert: Sie holte Unzufriedene aus dem Verborgenen – ein schmerzhafter, aber eben auch ein Prozess, der sichtbar macht: Rechts der Unionsparteien blöken nicht nur ein paar versprengte Irre herum. Der gesellschaftliche Resonanzraum der AfD ist viel größer als ihre Wähler*innenschaft, so manches ihrer Themen ist anschlussfähig für die bürgerliche Mitte. Die sitzt ja gerne auch im Stadttheater, weshalb das Stück dort richtig platziert ist.
Dass die ungehemmt radikale Positionierung der AfD nicht nur auf fruchtbaren Boden fällt, sondern auch abschreckend wirken kann: hier setzt Grünewald an. Seine Inszenierung spitzt die populistischen Positionen zu und macht deutlich, dass die Partei zwar als Vertreterin einer bürgerlich-konservativen, ungehörten Mitte durchgehen will, aber eben eindeutig nationalchauvinistische, menschenverachtende Inhalte vertritt. Klar wird: Man darf diese Ausrichtung nicht ignorieren, denn dadurch fühlen sich jene sicher, die sie betreiben – und das würde die Zivilgesellschaft schwächen. In diesem Sinne legen zum Finale drei Schauspielende ihre Maskerade ab und verabschieden sich – der Sohn aber bleibt unbeirrt Igel und variiert mit Gefasel übers Tausendjährige Reich und eine angeblich ungebrochene deutsche Lust auf einen neuen Führer Björn-Höcke-Rhetorik. Dann verbeugt er sich. Niemand applaudiert – Deutschland ist kein einig Igelland.
Nächste Termine: Fr, 25. 6.; Do, 1. 7., Fr, 16. 7., Mi, 21. 7., jeweils 20 Uhr, Deutsches Theater Göttingen
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