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Ein riesiger Scherbenhaufen

Der VfL Wolfsburg steckt in der schlimmsten Krise seit den Chaosjahren 2017 und 2018. Die Mängelliste reicht von der Mannschaft über den Trainer bis in die VW-Führungsetage

Aus Bremen Frank Hellmann

Mit aufgerissenen Augen und ausladenden Handbewegungen machte Kamil Grabara deutlich, wie sehr dem Torhüter die Last-Minute-Niederlage beim SV Werder (1:2) an diesem für den VfL Wolfsburg furchtbaren Freitagabend aufs Gemüt geschlagen war. Wut und Entsetzen spiegelte sich in dem Gesicht wider, als beim 29-Jährigen die Maske fiel. Der polnische Tormann in blauer Montur hatte sich als letzte Instanz gegen den Dauerdruck gestemmt, ehe die Vorderleute ihn in der Nachspielzeit ein letztes Mal im Stich ließen. Der Werksverein ist nunmehr nach zehn Spieltagen am Tiefpunkt angekommen: Mannschaft, Trainer, Management – alles sieht wie ein riesiger Scherbenhaufen aus.

Nichts illustrierte den Zerfall besser als der letzte Genickschlag vor der Länderspielpause: Werder-Leihgabe Victor Boniface hatte mit einem missglückten Seitfallzieher den Ball eigentlich nur hoch gen Himmel gebolzt, doch VfL-Verteidiger Moritz Jenz bewunderte offenbar das neue LED-Flutlicht am Osterdeich, sodass Joker Samuel Mbangula das Weserstadion mit seinem Volleyschuss in ein Tollhaus verwandelte. Die Bremer sind Siebter – wie geht das denn? Die Niedersachsen kommen hingegen nach sieben Niederlagen in den letzten acht Pflichtspielen um Konsequenzen gar nicht umhin.

Die Entlassung des blassen Trainer Paul Simonis scheint unvermeidlich. Der unerfahrene Niederländer sagte in der Pressekonferenz mit leiser Stimme: „Wir haben in der zweiten Halbzeit nur verteidigt und nicht dreimal hintereinander den Ball behalten. Es hat nur ein Team verdient zu gewinnen.“ Nämlich der gewiss nicht übermächtige Gastgeber. „Das ist vielleicht die schwierigste Niederlage meiner Karriere“, gab er zu. Seine Anstellung entpuppte sich als Missverständnis. Als Nachfolger ist bereits der Schweizer Urs Fischer im Gespräch. Sportdirektor Sebastian Schindzielorz hatte nach dem Spiel kein Treuebekenntnis mehr aussprechen wollen: „Wir haben uns viel mehr vorgenommen, als wir gezeigt haben. In der zweiten Halbzeit, aber auch in den letzten Wochen.“ Es fällt indes in seine Verantwortung, dass das Wolfsrudel wie eine Ansammlung von Einzelspielern auftritt, die so mausgrau wirken wie ihre Auswärtstrikots. Zusammenhalt ist nicht erkennbar. Die Tage von Schindzielorz dürften ebenfalls gezählt sein.

Bewundernswert, wie lange die mitgereisten VfL-Fans ihr Team anfeuerten. Das Vereinsmotto „Arbeit. Fußball. Leidenschaft“ tritt dieser Legionärstrupp mit Füßen. Torschütze Mattias Svanberg konnte nicht fassen, dass sein Führungstor (28.) nicht mehr Sicherheit vermittelte. „Normalerweise hast du danach so viel mehr Eier – wir hatten nichts“, drückte der Däne das Mentalitätsproblem aus. Kapitän Maximilian Arnold zählte die Mängelliste auf: „Wir haben nicht mehr verstanden, den Ball zu halten. Wir besetzen die Räume nicht mehr. Wir haben das Gefühl, was zu verlieren.“ Die einzige Identifikationsfigur hat seinen Vertrag just bis 2028 verlängert, doch der 31-Jährige fühlt sich inzwischen an die Chaosjahre 2017 und 2018 erinnert, als die „Wölfe“ zweimal erst in der Relegation gegen Eintracht Braunschweig und Holstein Kiel den Abstieg vermieden. „Es ist ganz gefährlich“, flüsterte Arnold.

Die Wölfe Moritz Jenz, Patrick Wimmer und Maximilian Arnold sichtlich enttäuscht nach der Niederlage in Bremen Foto: Eibner/imago

Im von der Volkswagen AG dominierten Aufsichtsrat schrillen die Alarmglocken. Millionenschwere Zuwendungen in die Fußball GmbH sind bei Milliardenverlusten des Konzerns nur zu vermitteln, wenn Aufwand und Ertrag halbwegs passen. Was sich das Kontrollgremium um den VW-Kommunikationschef Sebastian Rudolph vorwerfen lassen muss, dass Geschäftsführer Peter Christiansen seine irrlichternde Personalpolitik so lange durchziehen durfte. Der 2024 gekommene Däne wollte einen „Wolfsburger Weg“ durchbringen, der allerdings in der Sackgasse mündete. Fast im Alleingang hatte er seinen vertragslosen Landsmann Christian Eriksen geholt, der mit 33 deutlich über dem Zenit ist. Vieles sieht auch bei dem Altstar nach Alibi aus.

Christiansen hat bereits indirekt seinen Rückzug angeboten: „Wenn ich das Problem bin, dann gehe ich gerne.“ Wenn weder Geschäftsführer, Sportdirektor noch Trainer eine Zukunft haben, wie sollen dann die Spieler wissen, wo es langgeht? Es schreit am Mittellandkanal nach grundsätzlichen Korrekturen. Fast tragikomisch, dass ab Montag das deutsche Nationalteam in die Autostadt kommt, um das Gelände des Krisenklubs in der Vorbereitung auf die letzten WM-Qualifikationsspiele zu nutzen.

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