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Ein bisschen Zukunft und der dreckige Rest

Im letzten Jahrtausendjahr kümmerten sich die Hamburger Theater mehr um das, was hinter ihnen, als um das, was vor ihnen liegt, und an Neuem sah man nicht gerade viel Gutes – ein Rückblick  ■ Von Ralf Poerschke

In den letzten zwölf Monaten eines Jahrtausends, so sollte man meinen, setzt sich auch ein Medium wie das Theater, das sonst immer eher den „Dialog mit den Toten“ (Heiner Müller) pflegt, ausnahmsweise mal verstärkt mit der Zukunft im Allgemeinen und im Besonderen auseinander. Wenn man auf das scheidende Hamburger Bühnenjahr zurückblickt, ist hier in dieser Angelegenheit eigentlich gar nichts versucht worden. Mit der einen großen Ausnahme: Christoph Marthalers ProjektDie Spezialisten am Deutschen Schauspielhaus. Das war skurril-komischer Social-Fiction der sehr politischen Art, das war blitzgescheit formulierte Kapitalismuskritik, die mutig nach vorne schaute. Um die Abschaffung der Arbeit ging es Marthaler, und da sah er nun mal ziemlich schwarz – worauf ihn viele Kritiker einen Moralisten schalten und einer sogar seine Abschaffung forderte. Aber das ficht den Schweizer nicht an, er hat ja die Ruhe weg.

Nein, 1999 war mehr ein Jahr der Rückschau. Den historisch weitreichendsten, opulentesten, sprachmächtigsten und mit zwölf Aufführungsstunden ungleich ausführ-lichsten Beitrag dazu leisteten die Schlachten! der Belgier Tom Lanoye (Text) und Luk Perceval (Regie) im Schauspielhaus. Hier wurde erzählt und erzählt und erzählt, so etwa vom Mittelalter bis in die dreckige Gegenwart, als würde dieser spezielle Theaterduktus im nächsten Jahrtausend verboten. Shakespeare lieferte für das gewaltige Fest lediglich den Grundstoff. Andere herausragende Inszenierungen setzten sich dezidierter mit dem Engländer auseinander: Jens-Daniel Herzog erleichterte im Thalia den Kaufmann von Venedig ohne Rücksicht auf Beifallsverluste um seinen Komödienschluss, und Dimiter Gotscheff rebellierte im Schauspielhaus mit einem ungemein zähflüssigen Lear und einem unverschämt leisen Bierbichler als König gegen Kriegstreiberei und schaurig-schönes Jahrtausendendgezeitel.

Beim Wühlen in den Abstellkammern und Giftschränken der Theatergeschichte sind Regisseure auf Stücke gestoßen, die sehr selten nur noch gespielt werden, aber richtig gehandhabt ganz außergewöhnliche Erkenntnisse lieferten. So hat Elmar Goerden für das Thalia Theater Hugo von Hofmanns-thals Elektra dem Vergessen entwunden – was schon deshalb zeichenhaft war, da das Stück die Mechanismen des Gedächtnisses behandelt –, das Personal reduziert und mit allem dafür notwendigen Todesernst eine eiskalte Tragödie präpariert, die unter die Haut ging. Ulli Maier zeigte in der Titelrolle eine absolute Ausnahmeleistung. Am selben Ort erweckte Yoshi Oida mit seinem kargen Regieinstrumentarium Das Mißverständnis von Albert Camus zu neuem Leben, und fast wäre es ihm gelungen, mitten im Feld des Existenzialismus eine Art Gottesbeweis zu erbringen. Die dritte bemerkenswerte Wiederentdeckung tätigte Thirza Bruncken im Schauspielhaus: Don Juan und Faust von Christian Dietrich Grabbe bürstete sie so sorgfältig durch, dass der größenwahnsinnige Dichter mit seinem mythischen Figurenkabinett plötzlich das ganze deutsche Debakel von Luther bis Hitler aufzuwerfen schien. Thomas Thiemes erschröcklichen Faust-Monolog wird man in diesem Zusammenhang noch lange in Erinnerung behalten.

Bei Ur- und deutschen Erstaufführungen waren die Glücksfälle weitaus dünner gesät. Einsam, was die Qualität des Textes und der Regie angeht, stand Thomas Ostermeiers Inszenierung von Marius von Mayenburgs Feuergesicht im Malersaal. Den beiden Shooting-Stars aus Berlin gelang in enger Komplizenschaft mit den Schauspielern ein zupackender, intensiver und explosiver Abend über Jugend in den Achtzigern. Vor allem handwerklich brillant zeigte sich an gleicher Stelle Falk Richters Inszenierung von Oscar van Woensels recht starkem Identitätsdrama Wer, während die Paarung Barbara Bürk/Peter Koper zu Headless Body in Topless Bar nichts von Belang zustande brachte.

Wie man ein selbstgefälliges schlechtes Stück herzlich langweilig deutsch erstaufführt, demonstrierte eindrücklich Nicolai Sykosch im TiK anhand von Botho Straußens Kuß des Vergessens. Wie man ein bedeutungsloses schlechtes Stück schon bei seiner Uraufführung – zumindest teilweise – gegen seinen Schöpfer richtet und daraus pures Kapital schlägt (von dem man sich freilich immer noch nichts kaufen kann), führte Stefan Bachmann mit Rainald Goetzens Jeff Koons im Schauspielhaus vor. Und wie man ein skandalös schlechtes Stück so werkgetreu skandalös uraufführt, dass man es für immer von allen Bühnen der Welt verbannt wünscht, zeigte Christina Paulhofer an Thomas Jonigks Täter.

Dass der Hamburger Regieschul-Absolvent Nicolas Stemann den Jonigk-Auftrag zurückgegeben hatte, schien mehr als verständlich. Auf Kampnagel zeigte er stattdessen mit Verschwörung eine weitere Folge seiner Serie mit dekonstruierten und für die junge Gegenwart fit gemachten Klassikern. Leider überzeugte der Mix aus Goethes Clavigo, Schillers Fiesco und Willi Bredels Klassenkampf-Roman Maschinenfabrik N & K nicht wirklich. Ein absolute Sensation schaffte dagegen seine Ex-Kommilitonin Sandra Strunz auf Kampnagel. Sie brachte unter dem Titel Lucas, Ich und Mich eine Romantrilogie von Agota Kristof zur Aufführung – volles Risiko und Hauptgewinn. Ein tieftrauriger, hochkomischer, enorm kluger Abend mit tollen Schauspielern – ein Wunder des Theaters, auch Dank ihres prächtigen Dramaturgen Bernd Stegemann.

Die wohl schlimmsten ästhetischen Niederlagen erlitten leider auch zwei Hamburgerinnen: Barbara Neureiter disqualifizierte sich mit ihrem Behinderten-Ausbeutungs-und-Auslach-Projekt Born Bad beim Sommertheater-Festival vielleicht für immer, und Ute Rauwald blieb mit ihrem Improvisationstheater bei killed by P. voll in der Improvisation kleben. Doch ihre Arbeiten wird man hier weiter sehen, und zwar am Schauspielhaus und oft.

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