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Ein Mann geht seinen WegDer streitbare Herr Marseille

Der Hamburger Unternehmer, der mit Pflegeheimen groß geworden ist, handelt nach dem Motto: Viel Feind, viel Ehr. Ärger geht er selten aus dem Weg.

Ulrich Marseille ist ein Unternehmer ohne Furcht Foto: imago

Viel Persönliches ist über den Hamburger Unternehmer Ulrich Marseille nicht bekannt. Er taucht in der Klatschpresse auf, wenn es aus dem Cockpit seines Privatflugzeuges qualmt, man liest über Streitereien mit Mitarbeitern und Aktionären, aber viel über den Menschen ist dabei nicht zu erfahren.

Auch Fotos gibt es nur wenige. Einige ältere zeigen ihn zusammen mit dem Hamburger Law- and-Order-Politiker Ronald Barnabas Schill, für dessen Partei „Rechtsstaatliche Offensive“ Marseille bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt antrat. Das war im Jahr 2002, und aus dem damaligen Wahlkampf datiert eines der wenigen Videos, die Ulrich Marseille, damals 46, in Aktion zeigen.

Menschen sitzen an Tischen in einem Saal, Sektgläser werden angestoßen, Marseille, in grauem Anzug, überragt die anderen um einen Kopf und redet von seinen Vorbildern: den „großen Unternehmern Siemens und Krupp“, die für ihre Arbeiter viel getan hätten. „Warum sollte man ein Land wie Sachsen-Anhalt nicht führen wie einen Betrieb?“, fragt Marseille und schaut leutselig in die Kamera.

Ein anderes Bild zeigt Gerichtsakten aus einem Verfahren, das sich in den Folgejahren abspielte. Marseille hatte schon vor seinem Wahlabenteuer mehrere tausend Plattenbauwohnungen in Halle (Saale) gekauft, darüber war ein Streit um Geldforderungen entbrannt. Marseille soll versucht haben, einen Zeugen durch fingierte Drohungen mit der Russenmafia zum Schweigen zu bringen, was ihm ein weiteres Verfahren wegen Nötigung einbrachte.

Schmährufe im Gerichtssaal

Das Verhalten Marseilles im Gerichtssaal, so steht es in den Akten, sei auffällig gewesen. Offenbar sei ihm egal, was für einen Eindruck er mache. Der Unternehmer habe „ausfällig gegen das Gericht, die Staatsanwaltschaft und Zeugen agiert“, Schmährufe vorgetragen, Zeugen der Lüge bezichtigt, sie ausgelacht und die „Scheibenwischer“-Geste angedeutet, was zahlreiche Ordnungsrufe zur Folge hatte.

Anscheinend sah sich Marseille damals als Opfer einer Intrige. Er soll geäußert haben, hinter dem Verfahren stecke die Landesregierung, die seine Chance zerstören wollte, nach einem Wahlerfolg Ministerpräsident oder „Superminister“ zu werden. Die Schill-Partei war in Sachsen-Anhalt an der Fünfprozenthürde gescheitert.

Ulrich Marseille, 1955 in Bremerhaven als Ulrich Hansel geboren, wuchs nach dem Tod seiner Eltern bei der befreundeten Unternehmerfamilie Marseille auf. Mit der Marseille-Kliniken AG (heute: MK Kliniken AG) stieg er in den 1980er Jahren in das Geschäft mit Pflegeheimen ein, von dem er sich zuletzt allerdings Schritt für Schritt verabschiedet hat: Er habe keine Lust mehr, sich „im harten Tagesgeschäft zu bewegen“, sagte er 2017 der Süddeutschen Zeitung.

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In Potsdam, wo eine Tochterfirma von Marseilles MK Kliniken AG die Josephinen-Wohnanlage für alte Menschen betrieb, wurde den über 100 Be­woh­ne­r*in­nen zu Weihnachten 2021 gekündigt. Der frei gewordene Wohnraum sollte zuerst lukrativ an Stu­den­t*in­nen vermietet werden, dann wurden Airbnb-Wohnungen daraus.

Auch an ukrainische Kriegsflüchtlinge sollen die Wohnungen vermieten werden. Marseilles Tochterfirma hatte in Potsdam eigens Anzeigen geschaltet: „Bitte, lasst uns nicht im Stich!“ steht groß unter dem Foto einer Flüchtlingsfrau mit Kind. Ulrich Marseille ist eben ein Unternehmer mit Herz.

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1 Kommentar

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  • Einige Fragen: Worum ging es beim Deal um rund 100 Wohnungen in zentraler Lage für Senioren in Potsdam eigentlich? Der Geschäftszweck der Altenwohnheimanlage wurde aufgegeben, den alten Menschen gekündigt, die dort Jahrzehnte wohnten. Einige Senioren wehren sich gerichtlich. Einige wenige bleiben weiter wohnen, warum eigentlich?



    Die meisten der 100 Wohnungen sollten möbliert an Urlauber vermietet werden, jetzt möbliert an Senioren aus der Ukraine.

    Steckt dahinter die Abzocke mit möblierten Wohnungen, mit der sich die Tagesschau kritisch auseinandersetzte?

    Also die Ausnutzung eines Paragrafen im Mietrecht, bei dem bundesweit Tausende von Wohnungen mit viel zu hoher Miete auf Zeit vermietet werden können? Versucht das Unternehmen, dem diese Wohnungen gehören, nun einen zu hohen Mietpreis für möblierte Wohnungen von ukrainischen Senioren zu erhalten?



    Und die Stadt Potsdam macht das Geschäft, statt dafür zu sorgen, dass die Wohnungen regulär vermietet werden?

    Es gab laut Tagesschau eine Bundesratinitiative aus Hamburg, um diesem gesellschaftlichen Missstand zu beseitigen.



    Stapelfeld zog den Antrag laut Tagesschau zurück, verhandelte mit der Ampel im Bund, wie das gesetzlich zu verbessern ist. Doch im Koalitionsvertrag der Ampel fand sich Stapelfelds Vorschlag nicht wieder. Doch warum?



    Weil Stapelfeld mit der FDP bei den Koalitionsverhandlungen im Bund einen krummen Deal mit der FDP machte, der nun wie in dem Fall der Wohnheimanlage in Potsdam die zu teure Vermietung von Wohnungen auf Zeit ermöglicht? Nicht zu vergessen die Tausenden von zu teuer vermieteten Wohnungen in den anderen Bundesländern.



    Diese Geschichte zeigt, dass Senioren in Wohnheimen viel besser vor Geschäftemachern gesetzlich geschützt werden müssen.

    Kommt dazu eine Gesetzesinitiative aus Hamburg? Und was ist aus der ursprünglichen Gesetzesinitiative von Stapelfeld eigentlich geworden?

    www.tagesschau.de/...lienmarkt-101.html