Ein Kammerjäger erzählt: Der Rattenfänger von Berlin
Rattenplage? Das hält Mario Heising für eine Mär. Der Mensch hinterlässt Müll und ist Teil des Rattenproblems. Dem kann der Kammerjäger mit Gift und Fallen zu Leibe rücken.
Die sechs Männer am Tisch gehen noch einmal ihre Routen durch, bevor sie in alle Himmelsrichtungen fahren. Jeder von ihnen kennt seinen Bezirk, die betroffenen Häuser und Grünflächen, die Probleme und Ursachen. Einzelne Fälle werden in der morgendlichen Runde besprochen. Man beschreibt Hofgrundrisse, skizziert Mülltonnenplätze und mutmaßliche Wege der Ratten auf Papier.
Am Kopf des Tischs sitzt Mario Heising. Er trägt eine Brille und ein T-Shirt mit dem Firmenlogo. Heising ist der Geschäftsführer und seit über dreißig Jahren Schädlingsbekämpfer. Aufmerksam hört er seinen Kollegen zu, gibt Ratschläge, kommentiert. „Schädlingsbekämpfung gibt es schon ewig“, sagt Heising, „wir tragen zur Hygiene und Gesundheit der Stadt bei.“
Er selbst hat seine Ausbildung in der DDR Anfang der 1980er Jahre absolviert. Dort arbeitete er im Volkseigenen Betrieb Kombinat Stadtwirtschaft Berlin – Schädlingsbekämpfung im Namen des Staates. Nach der Wende fiel die Schädlingsbekämpfung jedoch aus dem Aufgabengebiet der neuen Stadtreinigung heraus. Heising eröffnete daraufhin die Berliner Niederlassung der Dresdner Firma SchaDe.
Rattenbilder des Streetart-Künstlers Banksy
Die morgendliche Besprechung ist vorbei. Seine Mitarbeiter haben ihre Touren begonnen; Heising setzt sich an den Schreibtisch. Die großen Fenster erhellen die Büroräume und das weiße Mobiliar. Altes Gewerbe, modernes Erscheinungsbild. An der Wand hinter Heising hängen Leinwände mit den berühmten Rattenbildern des britischen Streetart-Künstlers Banksy. An einem weiteren Schreibtisch sitzt seine Tochter, auch sein Sohn arbeitet für die Firma.
Entsorgt werden tote Ratten und Mäuse in größeren Mengen und gegen Gebühr in Sammelstellen für Tierkörperbeseitigung. Diese werden im Auftrag des Landes Berlin betrieben. Manchmal nehmen auch Universitäten Kadaver für Forschungen an. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass die Ratten kränker waren, je näher sie am Krankenhaus lebten. (dst)
Ab und zu klingelt das Telefon, und Heising muss die Anrufenden um einige Tage vertrösten. Die Nachfrage ist groß, das Geschäft läuft. Nur wirklich dringende Fälle kann er noch kurzfristig annehmen. Wer im Keller Mäusekot entdeckt, muss sich jedoch gedulden. Oft verbringen die Tiere mehrere Wochen unentdeckt in den Gebäuden, erklärt Heising, „da machen zwei oder drei Tage mehr auch keinen großen Unterschied“.
Als Geschäftsführer arbeitet er vor allem vom Büro aus, doch ganz auf die Arbeit als Kammerjäger möchte er nicht verzichten. Auch an diesem Tag will er ein paar Aufträge abarbeiten. Seine erste Station ist ein Plattenbau aus den 1970er Jahren. Im Erdgeschoss befinden sich kleinere Geschäfte, die Kellerräume sind ungenutzt. Heising beginnt seine Inspektion mit dem Abfallraum. Er zückt die Taschenlampe, und das Licht wandert über den Boden, immer entlang der Wände. Mäusekot verrät: Hier treiben sich heimliche Gäste herum. „Und dit ist dann das KaDeWe“, sagt Heising lachend und zeigt auf einen Müllcontainer. Dann baut er eine kleine Schachtel auf, versieht sie mit einem Giftköder und legt sie auf den Boden.
An der Eingangstür zum Keller hängt noch ein Zettel, auf dem die Schädlingsbekämpfung vom Vorjahr dokumentiert ist. Heising kommt seit Jahren regelmäßig hierher. „Ich kenne Objekte, da fahren wir hin, seit ich Schädlingsbekämpfer bin“, sagt er kopfschüttelnd. Das Problem sei, dass nur die Schädlinge selbst, selten aber die Ursachen bekämpft werden.
Erst Ursachenforschung, dann Mängel beseitigen
Dabei sprechen Heising und seine Mitarbeiter jedes Mal Empfehlungen aus, wie weiterer Befall vermieden werden kann. Oft handelt es sich um bauliche Mängel wie beschädigte Abwasser- oder Regenleitungen. Diese zu beheben ist um ein Vielfaches teurer als der Einsatz des Kammerjägers. Der sorge zwar kurzzeitig für Ruhe, anschließend kämen jedoch neue Tiere über dieselben Wege auf die Grundstücke oder in die Häuser. „Richtig wäre also“, betont Heising, „erst die Ursachenforschung, dann die Mängel beseitigen und ganz zum Schluss Bekämpfung – nur das macht Sinn.“
Im Keller des Plattenbaus stapelt sich Sperrmüll. Heising macht Fotos für seinen Bericht. Mit sicherem Blick erkennt er die Wege der Mäuse, die hier waren. Hat sich ein Weg einmal als sicher für die Tiere herausgestellt, entsteht ein Trampelpfad für die Population. Dabei reibt sich das fettige Fell an Fußleisten und Türkanten ab und führt zu Verfärbungen. So wissen die Schädlingsbekämpfer, wo Fallen oder Köder am besten zu platzieren sind. Das Gift wirkt deshalb auch nicht sofort tödlich, sondern verzögert nach ein bis zwei Tagen. Auf diese Weise bleibt der Köder für andere Mäuse unverdächtig. Denn stirbt eine Maus noch vor Ort, rühren die anderen den Köder nicht mehr an.
Auch im Nebenraum wird Heising fündig. Kleine Brocken Dämmmaterial rieseln von der Decke. Die Spurensuche führt zu einem Bündel Kabel, das aus der Wand kommt. Nicht immer werden Durchbrüche nach dem Verlegen der Kabel zugespachtelt, sagt Heising, das sei aber wichtig. „Das sind sonst richtige Autobahnen“, fügt er hinzu und zeigt auf die Öffnung. „Bei Ratten kriegt man das schneller in den Griff, weil Ratten größere Löcher brauchen, aber bei einer Maus reden wir von eineinhalb Zentimetern, wo die durchgehen.“ Er nimmt eine Neonröhre, die an der Wand lehnt, hängt eine weitere Köderschachtel daran und setzt diese vorsichtig auf die Kabel unter der Decke. Zufrieden betrachtet er sein Werk. „Wir Schädlingsbekämpfer sind erfinderisch.“
Und sie sind organisiert. Seit ein paar Jahren ist Heising Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes für Berlin und Brandenburg des Deutschen Schädlingsbekämpfer-Verbands (DSV). In dieser Rolle vertritt er die Interessen der Berufskolleg*innen. Außerdem betreibt der Verband Aufklärungsarbeit darüber, was im Fall von Mäusen, Ratten oder anderen Schädlingen zu tun ist. „Da ist es gut, wenn man selbst in dem Metier tätig ist.“
Mal zwei, mal sechs Millionen
Heising tritt aber auch dann auf, wenn es einen medialen oder politischen Aufschrei über die Berliner Ratten gibt. Immer wieder werden aufmerksamkeitsheischende Zahlen als Aufhänger verwendet. Mal wird von zwei Millionen Ratten in Berlin gesprochen, dann von sechs. Eine Plage seien die Tiere, heißt es dann. Dieser Aufregung versucht Heising mit Ruhe zu begegnen. Ja, es gebe Rattenbefall in Berlin, Berlin sei schließlich eine Großstadt. Von einer Plage könne aber nicht die Rede sein. „Wir sind in Sachen Schädlingsbekämpfung ganz weit vorne“, erklärt Heising.
Auch das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) betont, es gebe keine verlässlichen Zahlen über die Anzahl von Ratten in Berlin, an solchen Spekulationen beteilige man sich nicht. Erheben würde das Lageso lediglich die Zahlen der Rattenbekämpfungen. Im Jahr 2017 waren das laut Deutschem Schädlingsbekämpfer-Verband in Berlin etwa 11.800. Doch auch diese Zahlen lassen keinen Schluss auf die gesamte Anzahl an Ratten zu.
Das Gefühl einer Rattenplage habe wahrscheinlich andere Gründe, vermutet auch Heising. So sind Hausverwaltungen und Eigentümer mittlerweile verpflichtet, Rattenbefall sofort dem Gesundheitsamt zu melden und eine Bekämpfung zu veranlassen. Auch verhindern moderne Bauweisen das Eindringen von Ratten in Häuser, weshalb die Tiere in Parks oder Wassernähe blieben, wo sie jedoch für mehr Leute sichtbar sind. In Berliner Altbauten hingegen haben es Ratten leichter: Wenn die jahrzehntealten Abwasserrohre beschädigt werden, gelangen die Tiere schnell in Innenhöfe und Gärten.
Bevor Heising den Keller des Plattenbaus verlässt, dokumentiert er die ausgelegten Köder und klebt ein oranges Warnschild an die Tür: „Köder zur Ratten- und Mäusebekämpfung ausgelegt. Kinder und Haustiere unbedingt fernhalten“. In einer Woche wird er zurückkommen und schauen, ob an den glatten Köderblöcken aus geschrotetem Getreide und Gift Spuren von Nagezähnen zu erkennen sind.
Nächste Station: ein Wochenmarkt
Gegenüber dem Gebäudeeingang hat ein Wochenmarkt seine Stände aufgebaut: Gemüse, Käse, aber auch Imbissbuden. Lebensmittelabfälle sind vorprogrammiert. Heising würde es nicht wundern, wenn hier nachher die Ratten vorbeikämen. Doch für ihn geht es nun in die Berliner Innenstadt. Auf einer Grünfläche sollen die Fallen überprüft werden. Gerade die verwilderten Flächen, wo die Büsche dicht und ungehindert wachsen, bieten sichere Rückzugsmöglichkeiten für die Vierbeiner. Auch schmeißen Menschen dort ihren Müll schneller hin als in gepflegten Parkanlagen. Das erleichtert den Ratten die Nahrungssuche.
Der etwa 20 Quadratmeter große Grünstreifen liegt zwischen einer Seitenstraße und dem Eingang zu einem Supermarkt. Es gibt Abfälle zwischen den hochgewachsenen Sträuchern. „Wenn man das einmal richtig plattmacht, hat man die nächsten Jahre Ruhe“, sagt Heising und zuckt verständnislos mit den Schultern. Dann beginnt die Spurensuche. An einer Ecke fehlt das Laub, das die restliche Fläche bedeckt, ein Zeichen für Bewegung. An der angehäuften Erde neben einem Loch erkennt Heising, dass die Tiere von außen gekommen sind. Kämen sie von unten aus der Kanalisation, läge keine Erde herum. Auch die Köder sind angenagt.
Schutzkleidung, wie er sie beim Einsatz gegen Wespen oder Bettwanzen trägt, braucht Heising für die Kontrolle der Fallen nicht. Aber Handschuhe sind beim Einsatz gegen Ratten Pflicht. Das liegt weniger an dem Gift als vielmehr an den Krankheiten, die die Ratten übertragen können. Dasselbe sage er Eltern, die besorgt sind, wenn um Spielplätze Köder ausgelegt sind. „Das Rattengift liegt in Kunststoffboxen, ein Kind kann gar nicht an den Inhalt kommen.“ Viel schlimmer sei, dass sich möglicherweise Rattenurin im Sandkasten befindet.
Die letzte Station auf Heisings Tour ist ein Mietshaus in Prenzlauer Berg. Das Erdgeschoss steht seit einiger Zeit leer, Ratten sind über die ausgetrockneten Toiletten eingedrungen. Mehrere Mieter*innen haben sich über den Zustand der ehemaligen Gewerbefläche beschwert. Heising öffnet die Tür, ein beißender Geruch liegt in der Luft. Vorsichtig bewegt er sich zwischen Abfällen und Gerümpel umher, kontrolliert die Fallen, die sein Sohn vergangene Woche ausgelegt hat. Hier arbeiten sie nicht mit Gift. Die Ratten sollen nicht unkontrolliert im Gebäude sterben, sondern direkt vor Ort. Dieses Mal ist ihnen keine in die Falle gegangen.
Mario Heising, Kammerjäger
Töten ist Teil des Berufs
Hin und wieder müssen die Schädlingsbekämpfer die Tiere auch selbst töten. Dann, wenn eine Ratte im Inneren eines Hauses ist und sich nicht herauslocken lässt. Doch dazu sind Heising und seine Kollegen ausgebildet – und berechtigt, die Tiere gegebenenfalls zu erschlagen. Denn das Tierschutzgesetz erlaubt es einigen Berufen, Wirbeltiere zu töten, darunter Fleischer, Tierärzte und auch Schädlingsbekämpfer. Nach der Ausbildung muss sich ein Kammerjäger daher bei den Veterinärbehörden melden. Auch ein polizeiliches Führungszeugnis muss vorgelegt werden.
Heising ist nicht froh darüber, dass das Töten Teil seines Berufs ist. Jedes Lebewesen habe erst mal das Recht zu leben, sagt er. Aber wenn Ratten sich zu nah an den Menschen einnisten, werden sie zu Gesundheitsrisiken. Dann sei es seine Aufgabe, diese Tiere möglichst ohne Qual zu töten und zu entsorgen. Das geht an keinem seiner Mitarbeiter spurlos vorbei. „Meine Jungs empfinden dabei etwas“, sagt er nachdenklich, „also nichts Positives“. Er würde niemanden einstellen, der Spaß am Töten hat.
Damit es gar nicht erst zum Bekämpfen von Schädlingen kommt, bietet Heising mittlerweile verstärkt prophylaktische Schädlingsbekämpfung an. Er berät unter anderem Supermärkte oder Unternehmen aus der Lebensmittelproduktion und der Pharmaindustrie in Sachen Hygiene. Ziel ist es, Hygienemängel und mögliche Zugänge für die Tiere im Voraus zu erkennen. Alle vier bis acht Wochen kontrollieren seine Mitarbeiter die Bedingungen in Verkaufs- und Lagerräumen und legen Testköder aus.
Auch Restaurants nutzen diese Vorsichtsmaßnahmen. Doch wer einen Kammerjäger vor einem Restaurant stehen sieht, überlegt sich zweimal, dort zu essen. Heising hält das für eine verkehrte Logik. Denn wer als Gastronom eng mit Schädlingsbekämpfern zusammenarbeitet, investiert damit in seine Hygiene und nicht umgekehrt.
„Wir helfen Menschen“
Sein Beruf ist vorbelastet, das weiß Mario Heising. Er zieht seine Schutzhandschuhe aus, steckt die Taschenlampe ein und schließt die Tür. Als Jugendlicher in der DDR wollte er mal Berufskraftfahrer werden, am besten für das deutsch-russische Transportunternehmen Deutrans. Denn das lieferte auch außerhalb der sozialistischen Grenzen. Die Ausbildung zum Schädlingsbekämpfer ermöglichte ihm den Erwerb des Führerscheins der Klasse 5 für Kraftfahrzeuge. Nach der Ausbildung begann ihm die Arbeit aber Spaß zu machen. „Wir müssen nachdenken, wir müssen suchen und finden, wir forschen, wir überprüfen und viel wichtiger: Wir helfen Menschen.“
Spaß mache es ihm auch heute noch, erzählt Heising und klingt zufrieden. Und um die Grenzen der DDR zu überqueren, brauche es heute auch keine Kraftfahrzeuge mehr, da reiche auch sein Dienstwagen.
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