Ein Jahr nach der Attacke aufs Kapitol: Mär vom gestohlenen Land
Die Attacke auf das Kapitol war Ausdruck einer Verbitterung. Noch immer wirken die, die sich ihr Land zurückholen wollen, als disruptive Kraft.
V or einem Jahr neigte sich das Delirium der Trump-Präsidentschaft, jene große Blamage der amerikanischen Nation, ihrem Ende zu. Zuvor hatten wir quälende Wochen durchlebt, in denen Trumps Helfershelfer immer neue ebenso absurde wie aussichtslose Klagen gegen die Wahlergebnisse anstrengten. Darunter Rudy Giuliani, der zwischen einem Porno-Buchladen und einem Gartencenter eine Pressekonferenz abhielt, bei der ihm schwarze Haarfärbetinktur das Gesicht herablief.
Mir fiel es lange schwer, die vier Jahre von Trumps Herrschaft per Massenkundgebung ernst zu nehmen. Am 6. Januar schalteten die TV-Stationen nach Trumps Rede zum Kapitol um, zu dem Hunderte seiner Anhänger strömten. Ich ging davon aus, dass die Dinge aus dem Ruder laufen würden – doch am Ende würden sie alle von der Polizei vertrieben werden. Verblüfft verfolgte ich dann, wie die Menge die Polizisten überwältigte und mit Knüppeln auf sie eindrosch, Metallbarrieren und kugelsichere Glastüren durchbrach und durch die Gänge im Kapitol zog, Akten durchwühlte und Jagd auf Kongressmitglieder machte, die im Labyrinth von Zimmern und Tunneln sichere Orte suchten. Ein einsamer Reporter hockte verborgen in einem Winkel und konnte hinterher alles berichten.
700 Teilnehmer wurden für ihre Beteiligung an dem Angriff angeklagt. Nicht alle gehörten extremistischen Gruppen wie den Proud Boys an oder waren Anhänger von QAnon. Es waren auch normale Bürger:innen, Armeeveteranen, Geschäftsleute, die überzeugt waren, dass man Donald Trump den Wahlsieg gestohlen hatte. Als ob es wahr würde, wenn man es immer wieder behauptet. Trotz der fünf Todesopfer am 6. Januar weigern sich die Republikaner, zur Aufklärung der Frage beizutragen, ob Trump bewusst die heiligen Regeln des Kongresses brechen wollte, um an der Macht festzuhalten.
Dies ist der Punkt, an dem die aktuellen Entwicklungen in meinen Augen eine echte Gefahr bilden: „Es ist so, weil ich es sage“ ist eine Fortsetzung des Autoritarismus, mit dem Trump sein Amt geführt hat und den die Republikaner zu ihrem Programm gemacht haben. Teilnehmer:innen an der Attacke auf das Kapitol zeigen in Interviews keine Reue. Ihre Aktionen waren Ausdruck ihrer Verbitterung darüber, dass man sie übersehe. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass ihr Land sich in eine falsche Richtung bewege, mit zu offenen Grenzen, mit einer Gesellschaft, in der Hautfarben und Gender fließend sind, in der angebliche Traditionen und Werte bedroht sind, die doch nur sie für wichtig galten. Sie unterstellen den linken Kräften, alles zu kontrollieren. Der Republikaner Peter Meijer, der einen Kongressdistrikt in Michigan vertritt, sieht bei ihnen „Aufstandsneid“ als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste.
ist freie Journalistin aus Washington, D. C. Sie hat mehr als 25 Jahre für das gemeinnützige National Public Radio (NPR) gearbeitet. Ihre Themenschwerpunkte waren das Weiße Haus und Sozial- und Gesundheitspolitik.
Mir sind in unserer Hauptstadt Landsleute begegnet, die für eine Demo angereist waren und mit ihren Flaggen für Gott und Vaterland in der U-Bahn unterwegs waren. Sie kamen sich fühlbar höchst fremd in dieser Umgebung vor und wagten nicht einmal, den freien Sitz neben mir in Anspruch zu nehmen. Sie taten mir fast leid. Sie sind zum Jahrestag des Angriffs auf das Kapitol nicht zurückgekehrt, aber sie bleiben überall im Land eine disruptive Kraft, sammeln Anhänger und strömen zu Treffen von Schulbeiräten und Stadtverwaltungen, schimpfen auf Lehrpläne und Maskengebote und schüren den Zorn nicht nur auf eine gestohlene Wahl, sondern auf jene, die ihnen ihr Land weggenommen haben, das sie sich nun zurückholen wollen.
Aus dem Englischen Stefan Schaaf
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