Ein Jahr nach dem Militärputsch: Die Verzweifelten von Myanmar
Seit dem Putsch gegen die Regierung von Aung San Suu Kyi leben die Menschen in Angst. Viele sind geflohen, doch gibt es auch starken Widerstand.
Das Militär hat Myanmars langwierigen Übergang zur Demokratie abrupt beendet. Doch das Blutvergießen geht weiter, die Hoffnungslosigkeit ist groß. Die Junta führt eine brutale Kampagne gegen das eigene Volk und versucht, gegen den starken Widerstand den Anschein von Normalität zu erwecken.
Dabei können wir Bürger immer noch nicht einmal frei über das Geld auf unseren Bankkonten verfügen. Und für unser Nationalgericht Mohinga (Fischsuppe mit Reisnudeln) zahlen wir inzwischen doppelt so viel wie vorher.
Oberflächlich zeugt das Treiben auf Yangons Straßen zwar von Normalität. Doch die Menschen haben Angst. Denn immer wieder gibt es Razzien und Festnahmen, weil Menschen sich in den sozialen Medien kritisch über das Militär äußern, friedlich protestieren oder angeblich den Widerstand unterstützen.
Myanmars Militär hat vor einem Jahr bereits zum dritten Mal in der Geschichte des Landes geputscht. De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, Präsident Win Myint, fast alle Minister und viele Abgeordnete wurden verhaftet. Die Generäle rechtfertigten den Pusch mit angeblichem Betrug bei den Wahlen im November 2020. Die hatte die Partei des Militärs vernichtend verloren, was dem Militärchef, Putschführer und heutigem Juntachef Min Aung Hlaing die angestrebte Präsidentschaft verbaute. Internationale Beobachter hatten keinen Wahlbetrug festgestellt. Die Bevölkerung sah sich um ihr Votum gebracht und ging landesweit auf die Straße. Die überraschten Generäle antworteten mit immer brutalerer Gewalt gegen die Proteste. Bis heute haben weder die Junta noch die inzwischen bewaffnete Opposition das Land wirklich unter Kontrolle. Myanmar steckt in einer Wirtschaftskrise, der Bürgerkrieg eskaliert. Am Jahrestag wird zum „stillen Generalstreik“ aufgerufen. Ladenbesitzern, die nicht öffnen, droht lebenslange Haft. (HAN)
„Politik der verbrannten Erde“ des Militärs
Gegner des Militärs wie etwa Mitglieder der vorherigen Regierungspartei Nationale Liga für Demokratie (NLD) von Aung San Suu Kyi, Aktivisten und Journalisten werden unter fabrizierten Anschuldigungen festgenommen. In den Regionen Sagaing und Magwe, wo der bewaffnete Widerstand am stärksten ist, geht das Militär mit einer Politik der verbrannten Erde vor.
Die 36-jährige Thae Thae floh schon Ende Februar mit ihrem Mann und ihren Eltern von Yangon nach Lay Kay Kaw an der Grenze zu Thailand. Thae Thaes Mutter ist Mitglied der NLD und in deren Frauenausschuss aktiv. Die Familie hat an den Protesten gegen den Putsch teilgenommen. Das beides macht sie zur Zielscheibe der Junta.
Für die Flucht mussten die Familie ihr Haus, ihren Schlossereibetrieb und ihren erst kürzlich eröffneten Lebensmittelladen zurücklassen. Doch schnell wurde klar, dass die Entscheidung richtig war. „Meine Nachbarn berichteten mir, dass die Polizei nach meiner Mutter gesucht hat“, sagt sie. „Sie hatte schon unter der früheren Junta Jahre im Gefängnis gesessen. Deshalb wollten wir jetzt unbedingt rechtzeitig fliehen.“
Für den Unteroffizier Ko Nge war die Flucht schwieriger. Er hatte mehr als zwei Jahrzehnte in der Armee gedient. Am 1. Juli ist er desertiert. Am Morgen nahm er ein Taxi und floh mit Frau und Tochter.
„Ich habe gebetet. Mein Gott! Wenn wir erwischt werden, ist es das Ende“, sagt Ko Nge. „Die Flucht war die schwierigste Entscheidung meines Lebens.“ Er war schockiert zu sehen, wie Demonstranten erschossen wurden. „Wir sollen unsere Bürger doch schützen und nicht töten,“ sagt Ko Nge.
Politische Fortschritte innerhalb weniger Monate zerstört
Laut der myanmarischen Menschenrechtsorganisation AAPP wurden seit dem Putsch 1.503 Zivilisten getötet, 11.838 festgenommen und 661 verurteilt, davon 45 zum Tode (Stand 31. Januar). Ko Nge sagt, er habe sich einen Erfolg der friedlichen Proteste gewünscht. Aber leider habe das Militär alle politischen Fortschritte, die es nach 2010 gegeben habe, innerhalb weniger Monate zerstört.
Allein am 27. März, dem Tag der Streitkräfte, wurden von Militär und Polizei mindestens 160 Demonstranten erschossen. Seitdem gibt es immer weniger friedliche Proteste, meist kurze Flashmobs.
Zehntausende junge Menschen, die einst in Yangon oder Mandalay demonstrierten, sind in die Bundesstaaten Kachin, Kayah, Kayin und Chin geflohen und wurden dort von bewaffneten ethnischen Gruppen, die mit der Anti-Putsch-Bewegung sympathisieren, militärisch ausgebildet. „Sollen wir etwa weiter friedlich demonstrieren, wenn auf uns scharf geschossen wird?“, fragte mich Lin, der im April von der Karen National Liberation Army im Kayin-Staat militärisch ausgebildet wurde.
Flucht nach Razzia
Auch Thang Sei, ein entmachteter Abgeordneter des Oberhauses aus der Gemeinde Tamu (Region Sagaing) hatte zunächst an den friedlichen Protesten gegen den Putsch teilgenommen. Er floh nach Indien, nachdem im März Junta-Kräfte bei ihm eine Razzia durchgeführt hatten.
„Der Putsch hat die Zukunft meiner Kinder zerstört“, sagte er. „Ich sollte eigentlich jetzt im Parlament sitzen und Gesetze verabschieden. Stattdessen kämpfe ich von Indien aus für mein Land und werde als Flüchtling abgestempelt.“ Davor hatte er der Leitung einer sogenannten „Volksverteidigungkraft (PDF) angehört, die Anschläge gegen Junta-Kräfte verübt. Er wurde wegen „Aufwiegelung“ und „Terrorismus“ gesucht, ein Vorwurf, der jetzt häufig gegen Oppositionelle verwendet wird.
Mitte 2021 kehrten viele aus den Guerillaausbildungslagern im Kayin-Staat in die Großstädte zurück. Hunderte lokaler Widerstandsgruppen entstanden, darunter viele, die sich der oppositionellen „Regierung der Nationalen Einheit“ (NUG) im Untergrund und den „Volksverteidigungskräften“ (PDF) anschlossen.
Die Angriffe in den Städten auf Junta-Kräfte, ihre zivilen Handlanger in der Verwaltung, mutmaßliche Spitzel sowie auf Polizei und Militär nahmen zu. In einigen Fällen töteten oder verletzten die Bomben auch versehentlich Zivilisten oder gar Kinder. Gleichzeitig wüteten heftige Kämpfe in den Bundesstaaten Kachin, Kayah, Kayin und Chin mit ihren starken ethnischen Minderheiten wie auch in den zentralen Regionen der Birmanen wie Sagaing und Magwe.
Obligatorisches Militärtraining für Kinder von Soldaten
Die Junta antwortete brutal. Massaker wurden in den Gemeinden Kani (Sagaing), Hpruso (Kayah) im vergangenen Jahr und in der Gemeinde Matupi (Chin) zu Jahresbeginn verzeichnet. Der unerwartet breite bewaffnete Widerstand gegen die Armee hat sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Die Junta führte deshalb ein obligatorisches Militärtraining für die Kinder der Soldaten ein.
„Das Militär will unsere Kinder als Reserve behalten“, sagt der Deserteur Ko Nge. Seine Tochter im Teenageralter musste schon im April an so einem Training teilnehmen. Bis dahin hatte es das nur für die Ehefrauen der Soldaten gegeben. „Ich konnte meine Tochter nicht in einem so repressiven System des Militärs aufwachsen lassen,“ sagt Ko Nge. Er arbeitet jetzt in einem „befreiten Gebiet“ für eine Gruppe, die Soldaten beim Desertieren hilft.
Der Grenzort Lay Kay Kaw war so ein „befreites Gebiet“. Doch stürmten Soldaten den Ort und nahmen 40 Personen fest, darunter zwei abgesetzte NLD-Abgeordnete. Am nächsten Tag kam es zu Zusammenstößen zwischen den Junta-Kräften und der Karen National Liberation Army, dem bewaffneten Flügel der Karen National Union, die im jahrzehntelangen Bürgerkrieg des Landes eine Schlüsselrolle spielte.
Thae Thae und ihre Eltern flohen zunächst in ein anderes sichereres Dorf im Grenzgebiet, doch als in den Folgetagen die Kämpfe weiter eskalierten, flohen sie nach Thailand.
Nach Angaben des UN-Koordinationsbüros für Humanitäre Hilfe (Ocha) sind inzwischen 329.000 Menschen innerhalb Myanmars auf der Flucht. In Lay Kay Kaw haben die schweren Kämpfe zwischen Armee und Karen National Liberation Army, die von den Volksverteidigungskräften unterstützt wird, mehr als 22.000 Menschen vertrieben, davon 8.600 Menschen über die Grenze nach Thailand.
Flüchtlinge dürfen in Thailand nicht arbeiten
Dort ist die Zukunft von Thae Thae immer noch düster. Ihre Eltern leiden unter der Vertreibung. „Wir können das Lager nicht verlassen und dürfen nicht arbeiten, weil wir illegale Einwanderer sind“, sagt Thae Thae. Demnächst muss sie mit ihrer Familie eine neue Bleibe finden.
„Ich hasse es, auf der Flucht zu sein. Ich will einfach nur ein stabiles Leben, aber ich weiß nicht, was für eine Zukunft mich erwartet,“ sagt sie.
Wegen seiner Beteiligung an der Widerstandsbewegung wurden die Häuser des früheren Abgeordneten Thang Sei von der Junta konfisziert, eine gängige Praxis im Umgang mit Oppositionellen. Thang Sei sagte, die Revolution sei kostspielig. „Aber statt gute Miene zum bösen Spiel der Diktatur zu machen, lohnt das Risiko, gegen die Junta zu kämpfen“, sagt er.
Leben wie im Hausarrest
„Ich habe meine Entscheidung, mich der Revolte anzuschließen, nie bereut.“ Das sagt auch Ko Nge. Beide glauben an die Widerstandsbewegung.
Für mich selbst ist es als Journalist unmöglich geworden, offen zu arbeiten. Die Junta hat alle kritischen Medien verboten. Journalisten sind in Gebiete unter der Kontrolle bewaffneter ethnischer Minderheiten gezogen, ins Ausland geflohen oder arbeiten wie ich klandestin.
Die Berichterstattung aus dem Land selbst ist heute wichtiger denn je. Drei Journalisten wurden bisher getötet, mehr als einhundert festgenommen, ihnen drohen mindestens drei Jahre Haft, beim Vorwurf der „Förderung des Terrorismus“ auch mehr.
Ich sitze fast nur noch in meiner Wohnung, traue mich nicht mehr, meine Mutter in der Region Sagaing zu besuchen, und meine Freunde kann ich auch nicht mehr treffen. Ich fühle mich wie unter Hausarrest. Es ist ein Albtraum.
Der Autor ist ehemaliger Teilnehmer eines Workshops der taz Panter Stiftung in Berlin für Journalisten aus Myanmar.
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