Ein Jahr Massenflucht der Rohingya: Detektive in humanitärer Mission
Sitzt die Mutter im Gefängnis oder ist sie tot? Viele Familien sind seit der Flucht aus Myanmar zerrissen. Detektive suchen nach Menschen.
Ein Jahr ist es her, dass fast eine Million muslimische Rohingya vor dem burmesischen Militär nach Bangladesch flohen. Grenzpolizisten, die Gewehrsalven aus dem benachbarten Myanmar hörten, gaben es schnell auf, die Menschen abzuwehren. Wer an der Grenze stand, konnte dunkle Rauchsäulen in den Himmel steigen sehen. Satellitenbilder zeigen, dass Hunderte Dörfer niedergebrannt wurden.
Unzählige Familien sind seitdem auseinandergerissen. Wie viele der in Myanmar verbliebenen Menschen ins Gefängnis gesteckt wurden, ist ein Geheimnis der Regierung.
Acht Monate hat es gedauert, bis Rehan und seine Geschwister nach der Flucht das erste Mal wieder von ihren Eltern hörten. Mitarbeiter vom Roten Kreuz machten sie in einem Gefängnis in Buthidaung im Westen von Myanmar ausfindig. Fast genauso lange mussten ihre Eltern warten, bis sie erfahren durften, dass ihre Kinder überhaupt noch am Leben sind. „Endlich weiß ich, wo ihr seid. Ich bin so froh, euren Brief erhalten zu haben“, schreibt die Mutter ihren Kindern.
Informationen, wichtig wie Nahrung und Wasser
„Wir vergessen gerne, dass Menschen in Krisensituationen nicht nur Wasser und Nahrung, sondern auch Informationen brauchen“, sagt Odoardo Girardi vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK). Der Italiener leitet nahe des größten Flüchtlingslagers der Welt in der bangladeschischen Stadt Cox’s Bazar das Programm zur Wiederherstellung von Familienbanden.
Das Rote Kreuz hilft weltweit Familien, die sich in den Wirren von Kriegen und Katastrophen aus den Augen verloren haben. Mitarbeiter fahnden nach vermissten Familienangehörigen und überbringen Briefe. In akuten Krisensituationen kann es oft schon ausreichen, Flüchtlingen ein Telefon oder Elektrizität zum Aufladen ihrer Telefone zur Verfügung zu stellen. Doch nicht immer ist es so einfach.
Aus einem Brief von Rehans Mutter
Der Rohingya Kamal Hossain kaufte zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als das Chaos das Leben an der Grenze bestimmte, einen Lautsprecher. Mit dessen Hilfe habe er im Lauf mehrerer Wochen 1.400 Vermisste durchgesagt, erzählt er. Die Hälfte von ihnen hätten mit diesem einfachen Hilfsmittel ihre Liebsten wieder gefunden. „Meine Arbeit ist getan“, sagt Kamal heute. In den übrigen Fällen könne er als einfacher Flüchtling nichts tun.
Dafür gibt es das Rote Kreuz. Durch behutsames Taktieren mit Regierungen auf der ganzen Welt sichert sich die Organisation auch dann noch Zugang, wenn andere auf Mauern des Schweigens stoßen. Und dazu zählen auch die Gefängnisse in Myanmar. Dort haben Girardis Kollegen die Familie von Rehan ausfindig gemacht. „Passt auf euch auf und macht euch keine Sorgen um uns. Wir beten für euch“, schrieb der Vater seinen Kindern.
Der 14-Jährige Rehan vermisst seine Schwester
Die Rohingya werden in Myanmar nicht erst verfolgt, seit vor einem Jahr Aufständische mehrere Polizeiposten attackierten. Für einen Großteil der burmesischen Mehrheit gehören sie nicht ins eigene Land, sondern nach Bangladesch. Die muslimische Minderheit spricht eine andere Sprache als sie und hat einen anderen Glauben. Das Militär hat die Rohingya über Jahrzehnte hinweg so stark isoliert, dass kaum noch ein Buddhist Kontakt mit ihnen hat.
Von alledem versteht der 14-jährige Rehan noch nicht viel. Er vermisst Yasminara, seine fünfjährige Schwester. Die anderen Geschwister sagen, sie sehe fast genauso aus wie er. Yasminara habe sich nicht von den Eltern trennen wollen, als diese ins Gefängnis abgeführt wurden, berichten sie. Nun lebt Yasminara mit ihnen hinter Gittern in Myanmar.
Wenn Rehan und seine Geschwister die Eltern besonders vermissen, dann wickeln sie vorsichtig die Fotos aus der Plastikfolie, die das Rote Kreuz ihnen mit dem Brief übergeben hat. Es ist Monsun, der Regen strömt regelmäßig herab und die Bilder haben ein paar bleiche Wasserflecken abbekommen. Das stört Rehan nicht besonders. Aber er findet, dass die Eltern schmaler aussehen als früher. Ihre Gesichter kann er auf den Fotos nicht erkennen. Wahrscheinlich sei es ein Fehler des Fotografen gewesen, dass er sie nur von hinten fotografiert hat, meint er.
„Wir müssen die Anonymität der Gefangenen bewahren“, erklärt hingegen Girardi vom Internationalen Roten Kreuz. Die Regierung Myanmars nimmt es damit nicht so streng. Im Januar hat die staatliche Zeitung Global New Light of Myanmar über sechs Tage hinweg eine Liste – teilweise mit Fotos – von 1.400 Rohingya veröffentlicht, die die Regierung bezichtigt, Mitglieder einer Terrororganisation zu sein. Darunter waren auch Kinder. Rehan hat Glück gehabt, dass er nicht selbst ins Gefängnis gesteckt worden ist.
Die Suche von Familiendetektiv Rabbi
Wenn die Eltern eines Tages freikommen, dann will Rehan eine Ziege schlachten. Seine kleine Schwester kippt immer wieder dösend gegen die Bambuswand der Hütte, in der sie zu elft leben. „Hier ist genug Platz für uns alle“, sagt Rehan optimistisch. Zurück nach Myanmar zu gehen ist für ihn keine Option. „Wieso sollten wir zurückgehen? Unser schönes Haus gibt es nicht mehr und man will uns töten“, sagt er.
Einen Tag später, auf einem der endlosen Hügel in dem, was Entwicklungshelfer inzwischen Megacamp nennen: „Ihr Leute aus Myanmar, wenn ihr Abdul Kudus kennt, dann kommt zur Moschee“, krakeelt es aus einem Lautsprecher. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes steht in einer etwas größeren Bambushütte, die als Gebetshaus fungiert. Draußen plaudert sein Kollege Rabbi mit Rohingya-Flüchtlingen. Er ist Familiendetektiv.
Heute soll der 25-jährige Bangladescher, der für das Rote Kreuz das Programm zur Wiederherstellung der Familienbande im Camp koordiniert, einen Brief an einen Abdul Kudus weitergeben. Der „Hilfsempfänger“, so nennen sie beim Roten Kreuz die Leute, wohnt nicht mehr unter der Adresse, wo man ihn vermutet hatte. Sein Mobiltelefon hat wie so oft im Lager keinen Empfang. Die Mission des Familiendetektivs beginnt.
Sie wird ihn über zahllose Hügel im Camp führen. In den engen Durchgängen des Flüchtlingslagers steht die Luft. Nach Regenfällen verwandeln sie sich in Rinnen mit zähem Matsch. Ein Tag im Lager bedeutet für Rabbi jedes Mal aufs Neue eine körperliche Anstrengung. Auf den Fahrten zurück ins Hauptquartier schläft er meistens ein.
Von der Angst, zu viel zu verraten
Unter den Imamen und den Camp-Vorstehern kennt man den freundlichen Bangladescher mit dem Wuschelkopf und der runden Metallbrille inzwischen. „Nenn mich besser nicht einen Detektiv“, scherzt er. „Nicht dass wir die Rohingya noch verschrecken.“ Bangladesch ist ein Land, in dem die Polizei nicht zwangsläufig als Freund und Helfer gilt. Und aus Myanmar bringen die Rohingya oft traumatische Erfahrungen mit. Häufig sei es deshalb schwierig, die Flüchtlinge dazu zu bewegen, alle Informationen weiterzugeben, die sie über ihre Verwandten besitzen. „Zu viel Angst“, sagt Rabbi und zieht traurig die Augenbrauen nach oben.
Für den Familiendetektiv in der roten Weste ist das ein Problem. Es ist schon schwierig genug, dass es unzählige Noor und Dil Mohammeds unter den Rohingya gibt und jedes Dorf einen burmesischen und einen Rohingya-Namen trägt. Die bangladeschischen Behörden und die Hilfsorganisationen sind noch immer damit beschäftigt, das Camp zu strukturieren. Als die Regenzeit anbrach, wurden Zehntausende Flüchtlinge in sicherere Teile des hügeligen Lagers umgesiedelt.
An jeder Ecke im Flüchtlingslager hat Familiendetektiv Rabbi eine andere Geschichte zu erzählen. An der einen Weggabelung trifft er den Vater, der ihm vor Kurzem um den Hals fiel, als er ihm eine Nachricht von seinem tot geglaubten Sohn überbrachte. An der Moschee wird er sich immer an die Schreie der Frau erinnern, die in einem Brief vom Tod ihres Vaters erfuhr. Das Rote Kreuz selbst erklärt Vermisste nur dann für tot, wenn eine entsprechende Urkunde vorliegt. Das geschieht nur selten.
Das Zelt, in dem die Familiendetektive vom Roten Kreuz einmal in der Woche eine Sprechstunde halten und neue Fälle entgegennehmen, ist auch ein Jahr nach dem Beginn der Flüchtlingskrise noch voll. Seitdem die Rote-Kreuz-Mitarbeiter in Myanmar Zugang zu den Gefängnissen in Myanmar haben, gibt es noch mehr zu tun.
Manchmal überholen die Rohingya das Rote Kreuz aber bei der Familienzusammenführung auch. Nachdem Rabbi den Fall Abdul Kudus für heute zu den Akten gelegt hat, machen er und sein Team sich auf zu einem Marsch zum „Muchora Hill“, dem sogenannten Kurvenhügel. Dort wollen sie Katija einen Brief von ihrem Sohn aus Myanmar überbringen. Die Nachricht vom Besuch der Familiendetektive verbreitet sich in Windeseile. Es vergehen keine zehn Minuten und Katija kommt auf Rabbi und sein Team zu. Die Monsunwolken hängen tief, dahinter kommt am blauen Himmel die Sonne zum Vorschein. Nach kurzer Verwirrung ist klar: Der Sohn lebt seit Kurzem im selben Camp wie seine Mutter. Der junge Mann ist noch vor dem Brief in Bangladesch angekommen. Rabbi freut sich. Seine Kollegen im Büro sind weniger glücklich. „Wir wollen eigentlich nicht, dass Menschen durch unseren Briefdienst zur Migration animiert werden“, gibt Girardi zu bedenken.
Die Familie von Yousuf hatte wie viele andere keine andere Wahl als die Flucht. Yousufs Mutter sitzt in einem Gefängnis in Myanmar. Der Vater ist tot. „Soldaten haben ihn umgebracht. Wir durften ihm gerade noch die Burka der Mutter über den Kopf legen“, erzählt der Jugendliche, der mit seinen Geschwistern bei einem Onkel im Flüchtlingslager lebt.
Sechs Monate ohne Wissen über das Schicksal der Mutter
Das letzte Mal gesehen hat die Familie sich im Gericht in Myanmar. Nachdem der Mutter angekündigt worden war, dass sie für zwei Jahre ins Gefängnis müsse, nahm man ihr die Kinder weg und schickte sie nach Bangladesch.
„Festgenommen während der Flucht nach Bangladesch“, heißt es zu dem Foto, das die burmesische Regierung im letzten Jahr auf Facebook veröffentlichte. Der Junge auf dem Foto starrt angsterfüllt in die Kamera. Getrockneter Schmutz bedeckt sein Wangen. Seine Hände scheinen hinter dem Rücken zusammengebunden zu sein. Der Junge auf dem Foto ist der inzwischen geflüchtete Yousuf.
Im Februar haben Rabbi und seine Kollegen ihm und seinen Geschwistern den ersten Brief von der Mutter überbringen können. Sechs Monate lang wussten sie nicht, wie es ihr ging. Yousuf tut sich immer noch schwer, seine Erleichterung zu beschreiben, als die Familiendetektive ihn endlich ausfindig gemacht hatten.
Kyaw Hla Aung ist Rohingya und hat in Myanmar bleiben müssen. Er weiß genau, wie wichtig die Detektivarbeit ist, denn er versucht, so wie das Rote Kreuz, Vermisste ausfindig zu machen – aus eigener Initiative. Allerdings stapft der 71-Jährige dafür nicht kilometerweit über Hügel und durch Monsunsümpfe.
Wie mehr als hunderttausend andere Rohingya darf er ein lagerähnliches Areal nahe der Provinzhauptstadt Sittwe nicht verlassen. Er fungierte stattdessen mithilfe seines Telefons als Schnittstelle für Informationen. Als die taz ihn im Dezember 2016 besuchte, klingelte sein Telefon permanent. Am Apparat waren Informanten aus den Gefängnissen, besorgte Ehefrauen, Dorfvorsteher mit Neuigkeiten, die er zusammenpuzzelte und weitergab.
Kyaw Hla Aungs Telefon hat aufgehört zu klingeln. Eine Genehmigung, um ihn zu besuchen, wird von den burmesischen Behörden inzwischen nicht mehrt erteilt. „Die Rohingya haben zu viel Angst zu kommunizieren. Wir stehen alle unter Beobachtung“, erzählt er am Telefon.
Kyaw Hla Aungs Netzwerk ist zerfallen, nachdem geschätzte zwei Drittel der gesamten Rohingya-Bevölkerung im letzten Sommer über die Grenze nach Bangladesch geflohen sind. Dort können sie nicht mit ihm sprechen. Zwar besitzen viele der Flüchtlinge eine bangladeschische SIM-Karte, aber sie haben meistens keine internetfähigen Handys. Roaming-Gebühren kann sich ohnehin kaum jemand leisten.
Manche haben aufgegeben
Wer jetzt noch nicht wieder zu seiner Familie zurückgefunden hat, gilt als tot oder im Gefängnis. „Die meisten wissen, dass sie ohne Hilfe von außen keine Chance haben, ihre Verwandten zu finden“, sagt Odoardo Girardi vom Internationalen Roten Kreuz.
Eine von den vielen Menschen, die deshalb die Suche aufgegeben haben, ist Mosuda. Die 57-jährige sechsfache Mutter vermisst seit der überstürzten Flucht einen ihrer Söhne. „Unser Schicksal liegt in Allahs Händen“, sagt sie. „Wir müssen es nehmen, wie es kommt.“
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